Die Folgen der Finanzkrise:Der Markt braucht Regeln

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Man sieht es in den Armenvierteln von Rio de Janeiro genauso wie an der Finanzkrise: Ein ungebändigter Kapitalismus sprengt jede Gesellschaft. Daher braucht eine globale Wirtschaft feste Regeln.

Julian Nida-Rümelin

Julian Nida-Rümelin ist Ordinarius für politische Theorie und Philosophie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

Börsenhändler in den USA: Der Markt braucht Regeln. (Foto: Foto: AP)

"Wir haben in den Abgrund geschaut", soll Bundesfinanzminister Peer Steinbrück dieser Tage gesagt haben. Aber die Krise setzt sich fort, nun in Gestalt nicht beglichener Kreditkartenrechnungen in den USA und demnächst wohl auch in Gestalt weiterer Zusammenbrüche des Derivaten-Marktes.

Dies zeigt, dass wir nach wie vor in den Abgrund schauen. Allzu viele hoffen, dass man rasch wieder zum Status quo ante zurückkehrt, dass der Spuk schnell vorbei sein wird, dass man jetzt für einige Monate den Staat braucht und ihn dann wieder verabschiedet. Deswegen sei deutlich gesagt: Wir schauen alle miteinander, die wir von einer gedeihlichen Entwicklung der globalen Wirtschaft abhängig sind, in einen Abgrund, den wir aus der Vergangenheit kennen. Die jetzige Krise ist in ihrer Dimension nur vergleichbar mit der der Weltwirtschaft im Jahre 1929.

Keine Beschwichtigung der Steuerzahler

Die Frage der Managergehälter ist in diesem Zusammenhang nur ein Aspekt. Es geht jedoch dabei nicht, jedenfalls nicht primär, um eine moralische Frage. Es darf dabei auch nicht um eine Beschwichtigung der Steuerzahler gehen.

Der "Wert" eines Managers hat sich in den vergangenen Jahren in hohem Maße an den Abschlüssen, die eine Bank tätigt, an der Gewinnentwicklung und am Aktienkurs des Unternehmens orientiert. Quartalsberichte wurden zu einem wesentlichen Kriterium des Erfolgs, und über Boni-Zahlungen auch für die Honorare. Und wenn eine Bank einen 25-Prozent-Gewinn auf Eigenkapital anstrebte, konnte dies nur durch äußerst riskante und sozial rücksichtslose globale Finanzgeschäfte realisiert werden.

Kulturen voller Anstand

Wie viel wert diejenigen tatsächlich waren, die besonders in der angloamerikanischen Finanzwirtschaft exorbitante Vergütungen erreichten, zeigt sich jetzt. Durch diese "Erfolgsstrategien" geriet die gesamte Weltwirtschaft an den Rand des Abgrundes. Die "Werte", die hier im Finanzsektor vermeintlich geschaffen wurden, haben sich zu einem großen Teil als virtuelle herausgestellt. Was gegenwärtig stattfindet, ist nüchtern gesprochen eine Wertberichtigung. Die virtuelle Welt von Finanzwerten, die auf wechselseitigen Erwartungen und Unkenntnis der tatsächlichen Risiken und Bonitäten beruhte, wird nun der Realität angepasst. Die Finanzmanager waren also ihre Honorare - gemessen an realen, nicht an virtuellen Werten - nicht wert.

Konnten sie dies überhaupt sein? Das durchschnittliche Einkommen der zwanzig höchstbezahlten Finanzmanager in den USA belief sich im Jahr 2006 auf 650 Millionen Dollar und stieg im Jahr darauf, also im Jahr vor der Krise, auf fast eine Milliarde US-Dollar an, wohlgemerkt pro Kopf. Darauf hat kürzlich der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie hingewiesen, und es ehrt ihn, dass er allein diese Zahlen, mit und ohne Versagen der Finanzbranche, für kritikwürdig hält. Es gibt Kulturen, in denen die Anständigkeit des ehrbaren Kaufmanns solche Exzesse verhindert - weil er weiß, dass seine Erfolge nicht nur von ihm alleine abhängen. Dies gilt interessanterweise am deutlichsten für Japan.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum Verschleiern bislang belohnt wurde - und was die Finanzkrise mit den Armenvierteln von Rio de Janeiro zu tun hat.

Aber das Grundproblem ist so noch nicht begriffen. Es besteht darin, dass auf einem bestimmten Sektor der Ökonomie ein Verhalten belohnt wird, das die realen Kosten systematisch verschleiert. Deshalb bündeln Finanzmanager Kredite und verkaufen sie dann im Paket weiter, so dass die einzelnen Risiken anschließend nicht mehr abschätzbar sind. Die vertraglichen Bindungen an die jeweiligen Kreditnehmer wurden durch diese komplexen Instrumente aufgelöst.

Die Anreize, so vorzugehen, sind institutioneller Natur. Sie sind durch Vergütungsverträge sowie durch Entscheidungen der Aufsichtsräte so etabliert worden. Es handelt sich insofern zwar auch um eine Frage des moralischen Anstandes, ob man solche Anreize schafft oder nicht - aber vor allem um eine Frage der Wirtschaftsverfassung, der Regeln, nach denen agiert wird.

Keine Rückkehr zum Status quo ante

Der zentrale Denkfehler, der einen Gutteil der ökonomischen Expertise nun seit einigen Jahrzehnten prägte, ist der, dass die notwendigen Regeln vom Markt selbst hervorgebracht werden. Der Markt ist jedoch durch Regeln konstituiert, er schafft keine Regeln. Die globale Ökonomie kann sich gedeihlich nur entwickeln, wenn ihre Regeln politisch verantwortet sind und Bindekraft haben. Hier liegt die eigentliche Aufgabe. Es darf keine Rückkehr zum Status quo ante geben.

Eine stärker vernetzte globale Realwirtschaft bietet große Chancen. Aber diese stärkere Vernetzung bedarf der Regeln. Wenn sich die Erfahrungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während des Frühkapitalismus - mit den gewaltigen Migrantenströmen, der sozialen Entwurzelung, der Verelendung, aber auch der Anhäufung von Reichtum - nicht im globalen Maßstab wiederholen soll, dann ist jetzt das zu leisten, was die Nationalstaaten gegen Ende des 19. und bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus, in einem mühsamen Prozess lernen mussten: Ohne einen verlässlichen, mit Sanktionen versehenen und politisch verantworteten Ordnungsrahmen, ohne Sozialpflichtigkeit des Eigentums, ist der kapitalistische Markt nicht nur ökonomisch labil, sondern er sprengt am Ende alle Strukturen der kulturellen und der gesellschaftlichen Ordnung.

Vertrauen herstellen

Die Favelas am Rande der Großstädte, wie bei Rio de Janeiro, sind ein oft romantisch verklärtes (für die dort lebenden Menschen aber grausames) Beispiel dafür, was ein Markt ohne Staat, ohne politisch verantworteten Ordnungsrahmen, hervorbringt: Die gesamte Gewalt ist privatisiert. Die Schwächeren leben in vollkommener persönlicher Abhängigkeit. Die ethischen Fundamente der Kooperation sind erodiert, Misstrauen und Angst sind die beiden dominierenden Handlungsimpulse.

Die Schritte, die die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Industrienationen beschlossen haben, bekämpfen eine sich in Windeseile ausbreitende Misstrauenskultur in der Finanzwirtschaft. Sie wollen Vertrauen wieder herstellen, indem sie Garantien geben, die den Steuerzahler am Ende viel kosten werden. Diese Strategie ist ohne Alternative. Ihre normative Stoßrichtung liegt auf der Hand: Regeln etablieren, deren Überschreitung staatlich sanktioniert wird, und die Vertrauen und Stabilität statt Misstrauen und Angst schaffen. Der Staat darf sich dieser Aufgabe nicht erneut entledigen, er darf den Sirenenklängen des Marktfundalismus nicht erneut erliegen.

© SZ vom 22.10.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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