Die Börsenwelt und der Menschenverstand:Casino fatale

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Warum uns die Finanzmärkte überfordern - und wir überhaupt nichts dagegen tun können.

Andreas Hoffmann

Haben Sie schon einmal versucht, die Börse zu verstehen? Jeden Tag, stets kurz vor 20 Uhr, warte ich darauf, dass ich es endlich kapiere.

Ein smarter Mitdreißiger taucht auf der Mattscheibe auf, manchmal auch ein moderierendes Mannequin, und mimt den Börsenversteher. Er steht im Saal des Frankfurter Aktienmarkts, eine schwarze Säule dreht sich, Menschen sitzen vor Monitoren, Zahlen, Namen, Graphiken huschen durch das Bild, alle sind aufgeregt.

Fünf Minuten später erklingt die Fanfare der Tagesschau, und wirklich gewiss ist nur, dass Aktien und Fahrstühle viel gemeinsam haben: Beide fahren auf und ab. Beim Fahrstuhl weiß wenigstens jeder warum. Bei der Börse weiß es niemand.

Was in diesen Tagen fatal ist, weil das Vertrauen in die Börsenversteher schwindet wie der Wert mancher Aktiendepots. Das Problem beginnt damit, dass es eigentlich gar kein Problem gibt. Überall tauchen wichtige Menschen auf, Finanzminister, Wirtschaftsexperten, Banker und sagen stets das Gleiche: "Macht euch keine Sorgen. Wir haben die Sache im Griff."

Kaum ist das Rund-um-Sorglos-Mantra verhallt, gerät eine Bank in Bedrängnis, weil sie sich in den USA verspekuliert hat. Mal heißt sie IKB und verliert innerhalb weniger Stunden ihre Chefs und die Hälfte ihres Wertes an der Börse. Oder sie nennt sich Sächsische Landesbank, die Anfang August mitteilen ließ, es sei alles in Ordnung, bald darauf 17,3 Milliarden Euro benötigte und kurzerhand verkauft werden musste.

Kanadische und Schweizer Institute verlieren Geld, renommierte Investmentbanker wie Goldman Sachs stützen ihre Ableger, der oberste Finanzaufseher, ein Herr namens Jochen Sanio, sieht Deutschland an einer Bankenkrise wie in den dreißiger Jahren vorbeischlittern. Und weil die Finanzwelt so fabelhaft funktioniert, stellten die Notenbanken in den vergangenen Wochen weltweit fast 300 Milliarden Euro bereit, andernfalls wäre den Banken das Geld ausgegangen.

Wie beim Brontosaurus

Vielleicht hat der US-Investmentfondsmanager Jeremy Grantham recht, der die jetzige Lage mit einem Dinosaurier vergleicht: "Der Brontosaurus wurde in den Schwanz gebissen, aber die Information hat noch nicht sein winziges Hirn erreicht. Sie pflanzt sich erst ganz langsam durch sein Rückgrat fort, von einem Wirbel zum nächsten."

Das Problem der Börsenwelt ist der gesunde Menschenverstand: Er hilft einfach wenig. Das beginnt bei den Aktienkursen. In jedem Elektroladen herrscht das Grundgesetz der Ökonomie: Werden Kühlschränke teurer, fliehen die Kunden. Nicht so an der Börse. Steigende Preise, also höhere Aktienkurse, locken die Menschen an.

Sie kaufen, weil sie hoffen, dass die Preise weiter steigen und sie die Wertpapiere teurer loswerden können. Man kauft nicht, um zu besitzen, sondern um wieder zu verkaufen. Die Aktie ist ein Versprechen auf die Zukunft, das sich schnell verteuern soll. Dank der Talfahrt an den Börsen ist die Zukunft um einige Milliarden Euro günstiger geworden.

Von der gekauften Zukunft hält der Spekulant sehr wenig: 1980 schlummerte eine Aktie durchschnittlich zehn Jahre im Depot, 20 Jahre später durfte sie nur sieben Monate ruhen. Die Börse - ein Tollhaus?

Mitnichten, meint Eugene Fama. Wie viele Ökonomen hält er sie für ein Wunschbild der Wirtschaftswissenschaft. Die Käufer wissen über die Papiere Bescheid, die Kurse spiegeln die wichtigen Daten einer Firma wider, die Käufer handeln oft vernünftig und selbst wenn manche unvernünftig sind, gibt es viele Cleverles, die jeden Vorteil ausnutzen und alles ins Lot bringen.

Die Börse treibt die Wirtschaft an, die Firmen erhalten Geld, damit sie investieren können, und sie kann den Menschen den Besitz vermehren. Auch liefert sie Treibstoff für den Fortschritt, ohne sie müssten wir uns mit mittelalterlichem Tauschhandel abplagen statt bei Ebay zu surfen.

Je mehr man sich mit Aktien beschäftigt, umso schlimmer wird es

Nur warum ist die Realität oft unlogisch? In den USA steigt der Kurs einer Aktie am Tag im Schnitt um 1,65 Prozent, wenn der Vorstandschef sein Gesicht in eine Kamera hält, wie der Wissenschaftler Felix Meschke ermittelt hat. Als das Internet in den späten neunziger Jahren boomte, fügten manche Manager dem Firmennamen ein ".com" an, was dem Aktienkurs ein Plus von bis zu 74 Prozent brachte - ansonsten änderte sich in den Betrieben wenig.

Im Mai 1999 verwechselten viele Aktienhändler die Firmen AppNet und Appian Technology, weil sich ihre Kürzel ähnelten. Dadurch wurden Papiere von Appian Technology unbeabsichtigterweise um 140000 Prozent teurer, und in zwei Tagen verwandelten sich 1000 Dollar in 1,4 Millionen Dollar. Kurz danach kollabierten die Kurse.

Je mehr man sich mit Aktien beschäftigt, umso schlimmer, meinen die italienischen Ökonomen Luigi Guiso und Tullio Japelli. Man überschätzt sich, wagt mehr und erzielt weniger Gewinn, als wenn die Papiere ruhen. Unter dieser Selbstüberschätzung leiden auch Experten, weshalb es durchaus passieren kann, dass ein Playboy-Model wie Deanna Brooks ihr Aktienvermögen um 43 Prozent steigert - und die Profis blamiert.

Finanzmärkten fehlt auch das Gedächtnis. Die Abläufe an der Börse haben sich in den vergangenen 150 Jahren kaum geändert. In seinem 1891 erschienenen Buch "Das Geld" hat der französische Romancier Emile Zola die Mechanismen beschrieben: "Passanten wandten den Kopf aus Furcht vor dem, was hier geschah und zugleich in dem Verlangen, das Geheimnis dieser Finanzoperationen zu ergründen, in die nur wenige Geister eindringen, dieses unerklärliche plötzliche Entstehen und Zusammenbrechen von Vermögen."

Die Börse kennt nur ein Programm: die griechische Tragödie, Aufstieg und Fall des Geldes. Nur die Läuterung fehlt, weil die Experten jedes Mal, wenn die Kurse die Achttausender-Zone erklimmen, siegesgewiss verkünden: Also diesmal ist alles anders.

Faule Baudarlehen hübsch verpacken

Zu Zeiten Zolas versprach der Bau von Eisenbahnstrecken in fernen Ländern riesigen Reichtum, später in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren es Radios und Autos, in den neunziger Jahren hieß das Heilsversprechen Telekommunikation und Internet, und bis vor kurzem glaubten viele Banken, dass sich Gammel-Kredite in Geld verwandeln lassen.

Man musste faule Baudarlehen aus den USA hübsch verpacken, weiterreichen, und auf dem Weg durch viele Hände würde die Fäulnis verfliegen, war die Idee. Nur: Jede Bank kennt nun ihre kritischen Kredite und glaubt, dass die Nachbarbank ähnliche Leichen im Tresor stapelt.

Inzwischen misstrauen die Geldhäuser einander, Zahlungen stocken, und die Notenbanken müssen mit Milliarden einspringen. "Die Börse", sagt David Swensen, der oberste Geldanleger der US-Universität Yale, "ist ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, muss der andere verlieren, und das wird in der Regel der Privatanleger sein."

Also das Casino der Kurse meiden?

Geht leider nicht. Wir brauchen Börse und Banken, schon wegen des Kontos, um die Rechnungen zu bezahlen. Außerdem lauert die Finanzkrake überall.

Angenommen, Sie sitzen in Ihrem Eigenheim, sortieren die Post und wundern sich über den Brief eines unbekannten Finanzinstituts, das über Ihren Baukredit reden will. Sie haben das Darlehen regelmäßig bedient, nun aber fordert das Institut kurzerhand doppelt so hohe Zinsen wie früher. Ihre Bank hat Ihren Kredit an eine Beteiligungsgesellschaft verkauft, die mit Darlehen verdienen will. Alles erfunden? Einige Banken haben Baukredite an die US-Gesellschaft Lone Star weitergereicht, die hohe Zinsen fordert, weil sie gute Gewinne für die Finanzmärkte liefern will.

Oder Sie schauen Fernsehnachrichten, etwa auf Sat 1. Eines Tages taucht der beliebte Nachrichtenmoderator Thomas Kausch nicht mehr auf. Der Sender hat sein Informationsprogramm gekürzt, weil die neuen Eigentümer, die Finanzinvestoren KKR und Permira, mehr Gewinn wollen und Nachrichten stören.

Oder Sie arbeiten bei einer Firma, die ein Finanzinvestor kauft. Das ist eine Gesellschaft, die das Geld vieler Anleger verwaltet. Der neue Eigentümer strafft Geschäftszweige, schließt Abteilungen und entlässt Ihre Kollegen. Die Übernahme war teuer, aber bezahlen soll nicht der neue Eigentümer, sondern das Kaufobjekt. Deswegen bürdet er der Firma hohe Schulden auf, und bei der nächsten Krise wankt der Betrieb. Die Beschäftigten des Autozulieferers Edscha, des Zulieferers Kiekert oder der Bundesdruckerei haben solche Erfahrungen erlebt.

Okay, nicht alle Finanzinvestoren fressen die Firmen wie Heuschrecken auf. Apple, Microsoft oder Google wären ohne Finanzinvestoren nie entstanden.

Andere springen ein, wo keiner hilft, etwa bei Gewerkschaften. Der US-Hedgefonds Cerberus übernahm 20 000 Wohnungen von der Gesellschaft BGAG der Gewerkschaften. Manche unterstützen Mittelständler, die keinen Nachfolger finden, wie bei der württembergischen Druckerei Schlott, die Finanzinvestoren in einen Weltkonzern verwandelten. Doch sind auch immer wieder dunkle Gestalten unterwegs, die keine Tricks auslassen, um Betrieben das Geld abzupressen. Sie jagen nach der schnöden Rendite.

Vorn dabei sind Herren wie David Bonderman, der den Finanzinvestor Texas Pacific Group gründete und für ein Geburtstagskonzert mal eben die Rolling Stones einfliegen lässt. Oder Blackstone-Chef Stephen Schwarzman mit seinem 35-Zimmer-Apartment nahe dem Central Park in New York. Diese Generäle des Geldes marschieren aber nicht allein, ihnen folgen Millionen Menschen, die mitspielen wollen.

Den eigenen Job wegrationalisiert

Sie fürchten unter anderem um ihren Ruhestand, dass die Rente nicht reicht, und daher sollen sich die Spargroschen vermehren. Die Leute wollen hohe Renditen, setzen damit die Finanzinvestoren unter Druck, weil sie sonst ihr Geld abziehen. Die Finanzinvestoren wiederum setzen die Firmen unter Druck, weil sie die Anleger nicht verlieren wollen, und schreiben daher den Firmen die Geschäfte vor.

Die Firmen schließlich benötigen das Geld und setzen die Arbeitnehmer unter Druck, von denen einige ihr Geld den Finanzinvestoren anvertraut haben. Am Ende rationalisiert der Anleger den eigenen Job weg - der Rendite zuliebe.

Befeuert wird dieser Teufelskreislauf von der menschlichen Psyche. Bei Gelddingen sind viele Menschen "im Kopf falsch verdrahtet", meint der US-Psychiater Richard Peterson. Er gehört zu einer Gruppe von Psychologen, Hirnforschern und Ökonomen, die sich mit dem Anlageverhalten der Menschen beschäftigen.

Diese "Neuro-Ökonomen" fanden heraus, dass manche Menschen gern auf das schnelle Geld setzen. Lieber einen Hundert-Euro-Schein heute ausgeben, als auf 500 Euro am Monatsende warten. In unserem Kopf ringt die Vernunft ständig mit dem Hedonisten. Die Vernunft warnt uns, aber der Hedonist sucht den Kick des schnellen Geldes. Doch weil keiner obsiegt, bleiben die Finanzmärkte ständig in Bewegung - im Glücksrausch des Aufstiegs und in der Panik des Absturzes.

© SZ vom 01.09.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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