Deutscher Einzelhandel:Immer noch nicht drin

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Schaufensterbummel in New York: Viele Kunden bevorzugen es, ihre Einkäufe im Internet zu erledigen. (Foto: Chris Goodney/Bloomberg)

Zwei Drittel der deutschen Einzelhändler haben keine eigenen Web-Shops. Dabei wächst der Online-Handel besonders stark.

Von Kirsten Bialdiga, Düsseldorf

Jedes Jahr im Frühjahr dürfen sie plaudern, die Einzelhändler. Dürfen sagen, wie sie die Stimmung einschätzen, die Geschäfte und was sie sonst so bewegt. Normalerweise sind die Antworten so unterschiedlich, wie der Handel vielfältig ist. Da fallen Stichworte wie "Wetter", "grüne Wiese" oder "Kaufkraft". In diesem Jahr aber gibt es ein Thema, das alle anderen überstrahlt. Auf die ganz allgemein gestellte Frage, was sie denn bewege, lautete bei 1000 Befragten die eindeutig häufigste Antwort: "Online-Handel".

Kein Wunder, schließlich wird mit Ausnahme von Lebensmitteln schon fast jeder fünfte Euro Umsatz im Internethandel gemacht. Oder wie Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland (HDE) diesen Teil seiner alljährlichen Konjunkturumfrage zusammenfasst: "Der Online-Handel wird zur Normalität". Der Kunde kaufe mittlerweile genauso selbstverständlich im Netz ein wie im Laden um die Ecke.

Doch was für den Kunden schon Alltag ist, bleibt für viele Händler nach wie vor Neuland. Immerhin zwei Drittel der deutschen Händler sind der HDE-Umfrage zufolge noch nicht mit einem eigenen Shop im Internet präsent. Die Digitalisierung stelle sie vor große Herausforderungen, gesteht Genth ein. "Der Investitionsbedarf für eine Internetplattform ist immens", meint der Verbandschef. In puncto Schnelligkeit, Komfort und Qualität des Internetauftritts werde ein deutscher Mittelständler an der weltweit präsenten Konkurrenz aus Amerika gemessen. "Ein kleiner Händler ist gar nicht in der Lage, da mitzuhalten - das ist das größte Problem." Es müsse zwar nicht jeder gleich einen eigenen Web-Shop eröffnen, "aber im Internet auffindbar sollte er schon sein".

Die Einschätzung des HDE-Chefs deckt sich mit jüngsten Branchenstudien. Einer repräsentativen Untersuchung der Beratungsfirma Accenture zufolge haben deutsche Unternehmen große Schwierigkeiten, mit den Ansprüchen ihrer zunehmend vernetzten Kunden Schritt zu halten. Mehr als jeder Zweite hat demnach im vergangenen Jahr in Deutschland mindestens einem Anbieter den Rücken gekehrt. Besonders stark betroffen war der Einzelhandel. "Viele Unternehmen verschlafen die Chance, die Bedürfnisse dieses neuen Verbrauchertypus, der ständig online ist, zu bedienen", meint Accenture-Geschäftsführer Sven Drinkuth. Die Unternehmen scheiterten regelmäßig daran, die Ursachen der Anwendungsprobleme anzupacken.

Wer es geschafft hat, sich im Netz einen Namen zu machen, der profitiert allerdings sehr schnell. Auch das ist ein Ergebnis der am Dienstag veröffentlichten HDE-Umfrage: Multichannel-Händler, das sind jene, die ihre Waren sowohl im Laden als auch im Netz verkaufen, sind deutlich optimistischer als der Rest der Branche. Zwei Drittel von ihnen glauben, dass ihr Umsatz in diesem Jahr über dem Vorjahr liegt. Von den übrigen Händlern glaubt das nur etwas mehr als jeder Zweite. So sagt der HDE für den Online-Handel in diesem Jahr ein Plus von zwölf Prozent voraus. Im gesamten Einzelhandel erwartet der Verband ein nominales Wachstum von 1,5 Prozent auf gut 466 Milliarden Euro. Im Vorjahr lag das Plus noch bei 1,9 Prozent.

Besonders groß ist das Potenzial künftig im Online-Handel mit Lebensmitteln. Erst 0,4 Prozent der Deutschen bestellen ihren Wocheneinkauf im Internet. "Das ist bisher fast gar nichts - aber es wird erheblich mehr werden", meint Genth. Nach Branchenschätzungen wird der Online-Anteil bei Lebensmitteln bis 2020 auf fünf bis acht Prozent steigen. Noch sei es insgesamt zu unbequem, Lebensmittel im Internet zu kaufen, meint auch Accenture-Berater Thomas Täuber. Die Zeitfenster für die Lieferung des Einkaufs nach Hause seien nicht flexibel genug wählbar. "Die Einzelhändler sind noch nicht ausreichend darauf vorbereitet, einzelne Pakete mit frischen Lebensmitteln auszuliefern."

Künftig werden vor allem IT- und Internet-Experten im Handel gebraucht. Und Lagerfacharbeiter

Der wachsende Online-Handel könnte 2015 sogar Auswirkungen auf die Arbeitsplätze haben: Zum ersten Mal seit zehn Jahren rechnet der Einzelhandelsverband mit einem Stellenabbau. Etwa 30 000 der drei Millionen Jobs könnten dem HDE zufolge wegen Geschäftsaufgaben im Mittelstand, aber auch wegen veränderter Konsumgewohnheiten jenseits des Online-Handels verloren gehen. Zwar geben die Deutschen dank niedriger Inflation und Arbeitslosigkeit mehr Geld aus. So stieg das Konsum-Barometer der GfK-Marktforscher Ende März auf den höchsten Wert seit mehr als 13 Jahren. Doch profitieren in erster Linie Reiseanbieter und Autohersteller. Ganz leer geht der Handel allerdings nicht aus: Die Kunden kaufen mehr Premium-Lebensmittel, aber auch Möbel.

Parallel zum Stellenabbau entstehen dem Verband zufolge in der Branche auch neue Jobs. Künftig werden vor allem IT- und Internet-Experten gebraucht. Und Lagerfachkräfte, die dann zu deutlich niedrigeren Löhnen arbeiten als die Verkäufer in den Läden.

© SZ vom 15.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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