DaimlerChrysler:Eine Träne im Amazonas

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Das Prinzip Kokosnuss, oder: wie Mitarbeiter eines deutschen Konzerns im brasilianischen Urwald die Varianten der Globalisierung studieren.

Von Michael Kuntz

(SZ vom 09.09.2003) — Es riecht nach Diesel, und die Äquatorsonne brennt bei 32 Grad. Der kleine, vielleicht zehn Meter lange Holzdampfer tuckert durch die träge braune Brühe des Rio Tocantins.

Gabriele Rosenfelder, 29, hat zwar den Studiosus-Rucksack hierher mitgenommen in den Norden Brasiliens, aber diesmal soll alles anders werden als damals beim Wandern auf Gomera. Urlaub muss schließlich nicht immer nur Urlaub sein.

Die freundliche und zugleich energische Ingenieurin aus Deutschland will in den sattgrünen Wäldern an der 800 Kilometer breiten Mündung des Amazonas bei der Lösung von Problemen ein Stück weit selbst mit anpacken. Problemen, über die in dieser Woche auf der Hotel-Landzunge vor Cancún am grünen Tisch gesprochen wird.

Im Mallorca der Nordamerikaner an der Ostküste Mexikos werden die Delegierten der Welthandelsorganisation (WTO) diskutieren, wie lange noch die Welt in Arm und Reich zerfällt.

Reise in eine andere Welt

Zementiert die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft die bestehenden Verhältnisse? Oder ermöglicht sie Entwicklungsländern erst eine fairere Teilnahme am Welthandel? Eine von vielen Antworten findet sich am Amazonas.

Gabriele Rosenfelder blickt zurück auf die Hochhauskulisse von Belem, auf das Manhattan von Amazonien mit seinen 1,3 Millionen Bewohnern. Die meisten von ihnen leben freilich nicht in den Wolkenkratzern, sondern in Favelas, den Armutsquartieren am Fluss. Die Stadt blühte auf mit dem Kautschuk-Boom am Ende des 19. Jahrhunderts.

Zwar ist - wegen Aids - neuerdings Naturkautschuk wieder mehr gefragt für medizinische Handschuhe und Kondome, aber für Reifen wird Kautschuk zunehmend synthetisch hergestellt - schlecht für die Stadt. Das einst so reiche Belem wirkt heute ziemlich heruntergekommen. Nach 20 Minuten Fahrt erreicht das kleine Schiff die Flussinsel Cumbu. Noch ein kurzes Stück durch dichten Urwald wie aus dem Reiseprospekt, und der Steuermann legt an beim Stelzenhaus des Bauern Laercio.

Die kurze Fahrt von Belem über den Rio Tocantins ist eine Reise in eine andere Welt. Laercio lebt mit seiner sechsköpfigen Familie so wie die meisten Menschen in den abgelegenen Urwäldern Amazoniens. Wasser umgibt ihn mehr als reichlich, mindestens zweimal jährlich überschwemmt der Fluss sein Land, aber keimfreies Trinkwasser muss er aus der Stadt besorgen.

Den Stromgenerator teilt Laercio mit Nachbarn. Hohe Paranuss- und Mangobäume überdachen seinen landwirtschaftlichen Nutzwald. Darunter stehen Kokospalmen, dann Bananenstauden, Mais, Kürbisse, Ananas und Melonen. Und drei Hühnerkäfige.

Laercio ist Caboclo und zwar einer, dem es schon besser geht als den meisten dieser Halbindianer am Amazonas. Es reicht bei Laercio für die Ernährung der Familie, aber zum Verkaufen bleibt ihm nicht viel. Sein Verdienst beträgt 240 Real im Monat, gut 70 Euro, das ist weniger als ein Drittel des Durchschnittseinkommens in den Metropolen Sao Paulo oder Rio de Janeiro.

Man ahnt, was es heißt, wenn gut aussehende Brasilianerinnen in Belems Freiluft-"Bar-Parque" nachts von durch Caipirinha benebelten ausländischen Männern zunächst einmal 500 Real verlangen.

An Kleinbauern wie Laercio richtet sich Poema, das Forschungs- und Entwicklungsprogramm "Armut und Umwelt in Amazonien", das Gabriele Rosenfelder in den Dschungel lockte. 900 kleinbäuerliche Familien liefern heute die Schalen von Kokosnüssen an sieben genossenschaftlich organisierte Produktionsstätten. Diese bringen die Kokosfasern zu Seilen aufgezwirbelt zur Poematec-Fabrik in Ananindeua bei Belem.

Hier werden sie zu Kopfstützen, Sonnenblenden oder Sitzpolstern gepresst. Abnehmer ist DaimlerChrysler, der Konzern, bei dem Gabriele Rosenfelder in Sindelfingen dafür sorgt, dass alles funktioniert, was sich Designer für die Kabinen von Lkw ausdenken: "Wir gestalten den Lebensraum des Fahrers."

Zusammen mit 60 weiteren Mitarbeitern und Mitarbeiter-Kindern aus der DaimlerChrysler beteiligt sich die Maschinenbauerin an so genannten "Nature Workcamps", die in Südafrika, Russland, Spanien, USA und eben Brasilien stattfinden. Die bis vier Wochen dauernden Trips sind für den Konzern ein neuer Weg, um Mitarbeitern den Wert umweltbewussten Handelns nahezubringen.

Von Gabriele Rosenfelder und den anderen Teilnehmern wird nicht nur persönlicher, sondern auch ein materieller Einsatz gefordert. Sie reisen in ihrem Urlaub. Für Flüge und Unterbringung in einfachen Unterkünften zahlen sie cirka 2000 Euro aus eigener Tasche. In Brasilien dürfen sich die jungen "Urlauber" aus Deutschland an der Produktion der Kokosfasern und ihrer Vermarktung beteiligen.

Auf dem Markt in Belem hat Gabriele Rosenfelder eine Hängematte gekauft. Denn die Projektdörfer von Poema liegen teilweise tief im Urwald und da gibt es keine Hotels mehr. Gabriele Rosenfelder fährt zum Beginn ihrer Reise 30 Kilometer aus Belem hinaus nach Castanhal. Hier schlüpft sie in weiße Schutzkleidung, denn die 1991 eingeweihte Fruchtfleischfabrik ist ein moderner Lebensmittelbetrieb mit international üblichen Hygienestandards.

Maschinen halbieren hier die Kokosnüsse, das Fruchtfleisch wird von Hand ausgelöst, was für Ungeübte nicht ungefährlich ist. In Zentrifugen entsteht eine klebrige Kokosmasse, wie Eisfabriken und Bäckereien sie verwenden. Die leeren Schalen sind der Rohstoff für die Fabrik 20 Kilometer weiter, die mit alten Maschinen aus Deutschland aus Kokosfasern Kopfstützen macht.

Im nützlichen Dschungel

Hinter dem Poema-Projekt steht Thomas Mitschein, 54. Den Bielefelder Soziologen verschlug es 1980 als Austausch-Professor an die Bundesuniversität von Para in Belem, wo er bis heute blieb. Mitschein interessierten die realen Probleme der Menschen mehr als die Theorie. "Wir werden die Regenwälder Amazoniens nicht retten, wenn es uns nicht gelingt, die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig zu verbessern", sagt Mitschein, der mit seinen wallenden grauen Haaren aussieht, als ob man ihm bei einer Neuverfilmung von Werner Herzogs Amazonas-Streifen "Fitzcarraldo" die Rolle des Kapitäns anbieten müsste.

Die Caboclos sollten nicht länger durch Brandrodungen und Monokulturen binnen weniger Jahre ihre Lebensgrundlage zerstören und in Hoffnungslosigkeit versinken. Solarbetriebene Anlagen für die Aufbereitung von Trinkwasser entstanden, und Agrarexperten entwickelten für gerodete Flächen ein Ersatzökosystem. In den natürlichem Dschungel nachgebildeten künstlichen Nutzwäldern ließ sich die Ernte steigern, von zwölf auf 60 Kokosnüsse pro Baum, ohne dass die Fruchtbarkeit des Bodens beeinträchtigt wurde.

Und dann schleusten sie die Kokosnuss in eine, wie die Ökonomen das nennen, Wertschöpfungskette ein. Was nichts anderes heißt, als dass durch Veredelung mehrere Produkte entstehen, die insgesamt einen höheren Ertrag erzielen. Die Kokosmilch, das Fleisch der Kokosnuss und die Fasern werden getrennt vermarktet und erzielen insgesamt einen deutlich höheren Ertrag, als wenn der Kleinbauer einfach wie früher seine Ernte auf dem Markt verkauft hätte. Genossenschaftliche Organisationsformen verschaffen den Erzeugern als Miteigentümern zusätzliche Einkünfte.

Das Poema-Netzwerk gibt es seit 1992. Mitschein hatte zunächst die deutsche Sektion der Kinderhilfsorganisation Unicef als Partner gewonnen. Sie stellte für die ersten drei Jahre 1,5 MillionenDollar bereit.

DaimlerChrysler, vom früheren Metallgewerkschafter und Grünen-MdB Willi Hoss kontaktiert, gab dann eine weitere Million Dollar und verschaffte zumindest einigen Amazonas-Indianern Zugang zur globalen Wirtschaft. Auch wenn inzwischen ungefähr 9000Menschen von Poema profitieren, nennt der Professor - frei nach einem Buch des Schriftstellers Manès Sperber - das Projekt eine "Träne im Amazonas".

Und trotzdem: Wenn die Juristin Nazar Imbiriba, Ehefrau von Thomas Mitschein, nun für Poema nach Cancun gereist ist, dann wird sie für die Idee eines Entwicklungsfonds werben, der internationales Kapital nach Amazonien lenken soll. Denn mit der nachhaltigen Nutzung von Rohstoffen aus den Amazonaswäldern lasse sich durchaus Geld verdienen, sagt Mitschein. "Wenn es gerecht zugeht, können sowohl die Millionen Kleinbauern wie auch Anleger aus aller Welt an diesem Modell verdienen."

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