Chefvolkswirt:Unabhängig?

Lesezeit: 2 min

Die Rolle des Chefvolkswirts hat sich gewandelt. Ihr Job ist auch eine Gratwanderung. Nicht immer können sie sagen, was sie denken.

Von Harald Freiberger, Frankfurt

Den Beruf des Chefvolkswirts gibt es in Deutschland noch gar nicht so lange. Erst in den 1990er-Jahren bürgerte sich der Begriff ein. Vorher hatte es "Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung" einer Bank geheißen. Mit der neuen Bezeichnung ging auch eine neue Rolle einher: Während die Bank-Volkswirte vorher mit ihrer Einschätzung vor allem nach innen wirkten, tun sie es inzwischen auch und manchmal überwiegend nach außen, in die Öffentlichkeit.

Der Bedeutungszuwachs ist eng mit einem Namen verknüpft: mit Norbert Walter, der von 1990 bis 2009 Chefvolkswirt der Deutschen Bank war und im Jahr 2012 verstarb. Er hatte das Talent, ökonomische Zusammenhänge flott, griffig, manchmal auch provokant zu erklären. Das brachte ihm große Medienpräsenz ein. Bald bemühten sich auch andere Großbanken in Deutschland um einen sprach- und wirkungsmächtigen Chefvolkswirt. Bei der Commerzbank etwa war es Ulrich Ramm, bei der Dresdner Bank Klaus Friedrich.

"Bis Mitte der Nullerjahre hatte der Chefvolkswirt Hochkonjunktur", sagt einer, der die Rolle selbst lange ausfüllte: Martin Hüfner, 72, leitete von 1988 bis 2005 die Volkswirtschafts- und Kommunikationsabteilung der Hypo-Vereinsbank, die heute zur italienischen Unicredit gehört. Noch heute ist Hüfner beratend tätig, etwa für den Münchner Vermögensverwalter Assenagon. In den letzten Jahren ist es nach seiner Ansicht um die Chefvolkswirte etwas ruhiger geworden. Das liege zum Teil an den beteiligten Personen, zum Teil sei das Auf und Ab der Bedeutung des Berufsstands "eine Art Modewelle", es könne auch wieder aufwärtsgehen. Selbst ging Hüfner bewusst nach außen, als er 1988 zur Hypo-Vereinsbank kam: "Das Institut war außerhalb Bayerns kaum bekannt, volkswirtschaftliche Prognosen waren eine gute Möglichkeit, sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen", sagt er - und zwar abseits von Geschäftszahlen oder Personalentscheidungen, die ja nicht immer positiv seien.

Der Chefvolkswirt kann also auch Marketinginstrument für die Bank sein. Dabei gilt: Je unabhängiger seine Meinung, umso größer die Glaubwürdigkeit. "Ein Chefvolkswirt, der sich vor den Karren seiner Bank spannen lässt, verliert schnell an Kredit", sagt Hüfner. Er weiß aber auch: Absolute Unabhängigkeit gibt es nicht, schließlich ist der Volkswirt am Ende immer Angestellter der Bank. Er wird vielleicht nicht direkt Dinge sagen, die seiner Meinung widersprechen, aber er könnte versucht sein, Dinge zu verschweigen, die seiner Meinung entsprechen, aber der Bank schaden.

Nicht immer läuft es wie in den 1990er-Jahren, als Norbert Walter eine Währungsprognose abgab und sein Chef Hilmar Kopper nachschob: "Die Bank ist anderer Meinung."

© SZ vom 27.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: