BVG-Streik in Berlin:Zehn Tage Chaos

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Ohne Handschuhe und auf einem viel zu kleinen Fahrrad versucht Oktay Yücel zur Arbeit zu kommen. Andere hoffen auf ein Taxi oder warten vergeblich auf Ersatzbusse. Wie die Hauptsstadt im Streikchaos versinkt.

Daniel Steinmaier, Berlin

Am Hermannplatz in Berlin-Neukölln sind die U-Bahn-Eingänge verschlossen. Eine Frau, die offenbar noch nichts vom Streik erfahren hat, steht vor dem Tor und schüttelt den Kopf. "Ich hab einen Termin beim Arbeitsamt. Wenn ich zu spät komme, kürzen die mein Geld", sagt die Frau mit der blondierten Dauerwelle. "Was bilden die sich eigentlich ein?"

Die 2,7 Millionen Berliner, die täglich die Busse, U-Bahnen und Straßenbahnen nutzen, müssen sich heute etwas einfallen lassen. Alles steht still. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) streiken, und das voraussichtlich bis zum übernächsten Freitag.

Ersatzbus soll fahren

Die Frau mit dem Termin beim Arbeitsamt wählt mit ihrem Handy die Nummer des BVG-Callcenters. Niemand meldet sich. Auch dort wird gestreikt. Schließlich hastet sie fluchend zur Haltestelle, wo einer der Ersatzbusse fahren soll, den die BVG angemietet hat.

Der Ersatzbus fährt nur alle 30 Minuten. Schon jetzt ist absehbar: Die Leute, die hier stehen, werden kaum alle in den Bus passen. Ein junger Mann in Armeejacke und durchnässten Turnschuhen versucht ein Grinsen: "Da kommen eben zehn Tage Chaos." Das klingt, als wenn sich seine Berufsschullehrer damit abfinden müssen, dass er die nächsten Tage nicht kommt.

Übersät mit weißen Schneeflocken

Auch Stefan Kass versucht es mit den Ersatzbussen. "Eigentlich müsste er schon da sein", sagt der Werbefachmann, der erst seit zehn Minuten wartet. Sein schwarzer Mantel ist voller weißer Schneeflocken. Kass muss zum Potsdamer Platz, Kundentermin. Wenn der Bus nicht rechtzeitig kommt, will er ein Taxi nehmen. Immerhin rollt der Autoverkehr am Hermannplatz bisher ungehindert.

Jeden Tag werde ihm sein Arbeitgeber aber nicht die Taxifahrt zahlen, sagt er. "Dann muss ich mir etwas anderes einfallen lassen." Dass die Beschäftigten der BVG schon bald ein besseres Angebot vorgelegt bekommen und die Streiks beendet werden, glaubt er nicht.

Verständnis bei Verdi

Dass die "Berliner sauer sind" versteht Andreas Splanemann. "Vor allem, wenn ab Montag auch noch die S-Bahn streikt." Splanemann ist Pressesprecher von Verdi Berlin-Brandenburg. Auch er fahre normalerweise mit der BVG in die Arbeit. "Wenn uns ein akzeptables Angebot vorgelegt wird, setzen wir die Streiks sofort aus", verspricht er.

Auch akzeptiere die Gewerkschaft, wenn die bisher besser bezahlten Altbeschäftigten weniger von den geforderten Lohnerhöhungen profitieren sollten als die seit 2005 eingestellten Mitarbeiter, die bisher schlechter verdienen.

Die zwölf Prozent, die Verdi für die Beschäftigten fordert, seien "natürlich verhandelbar", sagt der Verdi-Sprecher, "man trifft sich irgendwo". Das bisherige Angebot des kommunalen Arbeitgeberverbandes sei aber "unakzeptabel". Da lohne "es sich nicht, darüber zu reden."

Unsereins muss sich anspucken lassen

Vor dem BVG-Betriebshof stehen zwei Dutzend Angestellte unter einem Plastikzelt von Verdi. "Wir haben seit zwölf Jahren keine nennenswerte Lohnerhöhung bekommen", sagt Werner Scholz, der seit 1971 bei der BVG ist. Der Mann mit der randlosen Brille und dem Schnurrbart meint, man habe lange genug Zugeständnisse gemacht, um Arbeitsplätze zu erhalten. "Unser Leben ist auch nicht umsonst." Erst vor kurzem habe er eine Mieterhöhung bekommen.

Sein Kollege Wolfgang Meyer spricht den Steuerskandal an: "Die Reichen packen ihr Geld nach Liechtenstein, die Manager verdienen immer mehr", sagt der 52-Jährige. "Unsereins muss sich im Bus anspucken und schlagen lassen und geht dann leer aus," spielt er auf die zunehmend brutalen Angriffe auf Berliner Busfahrer an.

Ob die Arbeitgeber angesichts des massiven Streiks schnell einlenken werden? Die BVG-Angestellten vor dem Betriebstor lachen schallend. "Das glaub ich kaum", sagt Meyer. Er geht davon aus, dass der Streik noch lange anhalten wird.

Im Blaumann mit schwarzer Bomberjacke

Oktay Yücel hat gestern aus der Zeitung von den Streiks erfahren. Der Mann im Blaumann und der schwarzen Bomberjacke fährt deshalb auf dem viel zu kleinen Fahrad seines Sohnes zur Arbeit. Der 47-Jährige knetet seine Hände. Es schneit und Yücel hat keine Handschuhe an.

Normalerweise fährt er mit der U-Bahn zur Arbeit. Er arbeitet in einem Baumarkt in Neukölln. Für den Streik hat er kein Verständnis. "Ich streike auch nicht, obwohl ich mehr Geld will." Am meisten aber ärgere ihn, dass er das Geld für seine Monatskarte nicht zurückbekommt, obwohl die BVG jetzt zehn Tage nicht fährt.

Die BVG bezeichne Streik als "höhere Gewalt" und zahle deswegen nichts zurück, erklärt er. Yücels Fazit: "Ich kann meinem Chef auch nicht sagen, ich komme wegen höherer Gewalt nicht zur Arbeit."

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