Bioelektronik:Mit Chips gegen Rheuma

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Die Bioelektronik gilt als eines der interessantesten Zukunftsprojekte der medizinischen Forschung: Heilung durch Elektronik-Implantate. Nun hat sich Google mit dem britischen Pharmakonzern GSK verbündet.

Von Kathrin Werner, New York

Es begann mit Fröschen. Luigi Galvani, ein italienischer Arzt und Anatomieprofessor, ließ im Jahr 1780 einen toten Frosch zappeln. Die Muskeln im Froschschenkel zuckten, wenn er den Ischiasnerv mit zwei Metallstücken berührte. Galvani dachte, er habe eine geheimnisvolle Lebenskraft entdeckt. In Wirklichkeit hatte er einen Stromkreis geschaffen - und die Grundlage für die Erkenntnis, dass elektrische Signale den Körper kontrollieren. Nicht nur den von Fröschen, sondern auch von Menschen.

Wenn Elektrizität im Spiel ist, müsste man sie doch auch steuern können, glauben auch heutige Forscher und Pharmaunternehmen. Seit einigen Jahren arbeiten sie daran, die elektrischen Signale des menschlichen Körpers mit Technik wie winzigen Implantaten zu manipulieren, um Krankheiten zu heilen oder zumindest ihre Symptome zu mildern. Diese recht junge Wissenschaft nennt sich Bioelektronik. Sie gilt als nächstes großes Ding für Start-ups, aber auch für Technikkonzerne aus dem Silicon Valley, in das es sich zu investieren lohnt.

Die Fortschritte in der Technik machen die Bioelektronik zu einem der spannendsten Zukunftsthemen, sagt etwa Vint Cerf, der als einer der Väter des Internets gilt, weil er ein Protokoll entwarf, auf dem das heutige Internet basiert. "Ich bin begeistert von neuen Trends mit Technik, die kleiner, persönlicher und bezahlbarer ist", sagte er in einem Interview. "Und vom Trend der medizinischen Bioelektronik."

Google und GSK wollen 630 Millionen Euro in das Projekt investieren

Erst vor Kurzem ist auch Google im großen Stil in das Geschäft eingestiegen, beziehungsweise nicht der Internetkonzern selbst, sondern die Schwesterfirma Verily Life Sciences. Sie hieß bislang Google Life Sciences, inzwischen ist sie unter dem Namen Verily ein Unternehmen der Google-Dachholding Alphabet. Die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin haben ihren Konzern vor einem Jahr komplett umgebaut und alle Geschäftsbereiche unter der Holding Alphabet organisiert. Verily hat sich nun mit dem britischen Pharmakonzern Glaxo Smith Kline (GSK) zusammengetan und ein gemeinsames Unternehmen gegründet, in dem sie künftig an der Forschung, Entwicklung und dem Vertrieb von bioelektronischen Heilmitteln arbeiten wollen. Getauft haben sie die neue Firma: Galvani. In den nächsten sieben Jahren wollen sie zusammen 540 Millionen Pfund, umgerechnet 630 Millionen Euro, in Galvani investieren. GSK wird 55 Prozent der Anteile halten, Verily 45 Prozent.

Google und GSK haben die Neuroelektronik nicht erfunden. Es gibt weltweit Forscher, die sich damit befassen, unter anderem an einem speziellen Lehrstuhl an der Technischen Universität München. Aber noch nie haben sich große Unternehmen mit einer derartigen wirtschaftlichen Schlagkraft dem Thema verschrieben wie nun der Internet- und der Pharmakonzern gemeinsam. Verily sei gut in der Herstellung winziger Elektrogeräte und der Analyse großer Datenmengen, glauben die Galvani-Gründer. Und GSK kenne sich mit dem menschlichen Körper und Arzneien aus und wisse, wie man die Implantate an einzelnen Nerven anbringen könnte. "Das Ziel der bioelektrischen Medizin ist es, die neuesten Fortschritte im Bereich Biologie und Technologie anzuwenden, um mithilfe von Miniaturgeräten die unregelmäßigen Muster bei Erkrankungen zu korrigieren", sagt Moncef Slaoui, der Chef des neuen Unternehmens. "Wenn dies funktioniert, bietet dieser Ansatz eine neue therapeutische Möglichkeit neben traditionellen Arzneimitteln und Impfstoffen." In neurotechnischen Versuchen ist es Forschern schon gelungen, dass behinderte Menschen Prothesen nur mithilfe ihrer Gedanken steuern können. Außerdem gibt es verschiedene Erfindungen für Implantate im Gehirn. Ein Neurostimulator soll zum Beispiel Hirnströme von Epileptikern messen und Auffälligkeiten mit elektrischen Impulsen korrigieren, bevor es zu einem Krampfanfall kommt. Galvani will allerdings Mini-Implantate für das periphere Nervensystem außerhalb des Gehirns und Rückenmarks bauen und so chronische Erkrankungen wie Diabetes, Arthritis und Asthma behandeln. Gerade bei diesen Krankheiten treten unregelmäßige Impulse in den Nervenbahnen auf. Und sie sind Volkskrankheiten: Weltweit leiden 422 Millionen Menschen an Diabetes, 334 Millionen an Asthma und mehr als 23 Millionen an rheumatoider Arthritis. Bis Galvani Mini-Chips auf den Markt bringt, die Kranke heilen können, werden aber noch Jahre vergehen. Die Zulassung für erste Produkte könnte in den kommenden zehn Jahren beantragt werden, teilte die Firma mit. Eine der größten technischen Schwierigkeiten ist, dass die Geräte winzig sein müssen. "Wir müssen die Implantate auf die Größe eines Reiskorns hinunterschrumpfen", sagt Verilys Technikchef Brian Otis.

Kritiker warnen davor, sich Unternehmen aus dem Silicon Valley auszuliefern

Auch ethische Fragen müssen die Konzerne noch lösen. Etwa: Inwieweit darf man den Körper mit Elektronik manipulieren? Außerdem muss sich noch zeigen, ob die Patienten überhaupt bereit sind, winzige Elektrogeräte in sich hineinzulassen. "Technikfirmen sind die Einfallstore, durch die der Kapitalismus zu jenen Bereichen unseres Lebens vordringen kann, die bisher aus ethischen und politischen Gründen tabu waren", glaubt Evgeny Morozov, einer der schärfsten Kritiker des Silicon Valley, der gerade an der Harvard University forscht. Er sagt, dass die Menschen nicht genug Hemmungen im Umgang mit den Verheißungen der IT-Industrie haben: "Wir mögen uns davor scheuen, Sensoren von Pfizer oder GSK zu schlucken, aber wenn wir sie von Google kostenlos bekommen - warum nicht?" GSK hat Bioelektronik schon vor einigen Jahren für sich entdeckt. 2013 hatte das Unternehmen einen Wagniskapital-Fonds in Höhe von 50 Millionen Dollar aufgesetzt und in sechs junge Firmen investiert. Eine von ihnen, SetPoint Medical aus Kalifornien, verkündete im vergangenen Monat einen größeren Durchbruch: In einer klinischen Studie hat SetPoint es geschafft, den Vagusnerv mit einem elektronischen Implantat so zu stimulieren, dass die Produktion von entzündungsfördernden Molekülen gehemmt wird. Das soll Patienten mit rheumatoider Arthritis helfen. Der Vagus ist einer der längsten Nerven im menschlichen Körper, er führt vom Hirnstamm über unzählige Verästelungen durch den gesamten Bauchraum und verbindet das Nervensystem des Darms mit dem Gehirn.

Verily entwickelt schon seit Jahren Soft- und Hardware für den Gesundheitsbereich - und kooperiert dazu mit großen Pharmaunternehmen. Mit Novartis entwickelt die ehemalige Google-Tochter Kontaktlinsen für Diabetiker, die Glukose in der Tränenflüssigkeit messen. Mit Biogen erforscht sie die Krankheit Multiple Sklerose. Im Dezember gründete sie eine Firma für Roboterchirurgie mit Johnson & Johnson. Dass Verily mit den Projekten tiefrote Zahlen schreibt, stört die Google-Gründer nicht, genau darum haben sie Firmen wie Verily unter dem Dach von Alphabet angesiedelt. So schaden die Verluste den Geschäftszahlen von Google nicht. Page hat diese Nebenprojekte "Moon Shots" getauft. Der Name bedeutet Schüsse auf den Mond und leitet sich ab vom englischen Begriff "long shot", einer Art "Schuss ins Blaue". Ein anderer Moon Shot ist Alphabets Tochterfirma Calico. Sie soll das Altern aufhalten - und die Menschheit vom Tod heilen.

© SZ vom 19.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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