Beziehungen zu Deutschland:Hundert Jahre Zweisamkeit

Lesezeit: 1 min

Der Lateinamerikaverein will seine Tradition als wichtige Vertretung der deutschen Wirtschaft fortsetzen.

Von S. Schoepp, Hamburg

Dass hier heute etwas anders ist, merken sogar die Garderobenfrauen. Normalerweise sind Kongresse im Stucksaal des Hamburger Hotels Atlantic für ihre Steifheit bekannt. Aber hier plaudern und lachen alle durcheinander. Liegt das vielleicht daran, dass es sich um die Jahrestagung des Lateinamerikavereins (LAV) handelt und mindestes die Hälfte der Gäste Lateinamerikaner sind, die andere Hälfte Lateinamerika-erfahrene deutsche Geschäftsleute? Die Dame, die einem Mantel und Tasche abnimmt, ist sich - auf die Atmosphäre bezogen - jedenfalls sicher: "Davon kann man etwas lernen."

Dass Deutsche eine Menge Lernbedarf haben, wenn es um Geschäftsabschlüsse im Ausland geht, merkten Hamburger Kaufleute schon vor hundert Jahren. Deshalb gründeten sie 1916 den "Ibero-Amerikanischen Verein" als Brücke zwischen den Kulturen. Mitten im Ersten Weltkrieg ging es natürlich noch um mehr. Deutsche Unternehmen mussten um ihre Investitionen in Übersee fürchten, da war es wichtig, Verbundenheit mit dem Süden des amerikanischen Kontinents zu demonstrieren, dessen Kriegs-Sympathien noch schwankten. Zu Friedenszeiten wurde der Verein dann immer wichtiger angesichts der Auswanderungswelle aus Deutschland während der 1920er-Jahre.

Für die Staatschefs sind die Tagungen mitunter wichtiger als ein Besuch bei der Kanzlerin

Nächstes Jahr feiert der Lateinamerikaverein, wie er inzwischen heißt, 100-jähriges Bestehen, er ist zu einer der wichtigsten Plattformen der deutschen Wirtschaft im Ausland geworden. Man sieht es daran, dass der LAV jedes Jahr einen lateinamerikanischen Staatschef oder eine Staatschefin (von denen es ja inzwischen einige gibt) nach Deutschland einlädt - und sie alle kommen. Dieses Jahr war es Evo Morales aus Bolivien. Bei der Kanzlerin schauen sie natürlich auch vorbei, aber der LAV-Termin ist im Zweifelsfall der wichtigere, denn es geht um Wirtschaftsinteressen, und da sind deutsche Investitionen für Lateinamerika traditionell von zentraler Bedeutung. Dieses Jahr unterzeichnete Morales einen Vorvertrag mit Siemens über die Lieferung von Energieanlagen.

Es ist also starke Untertreibung, wenn Geschäftsführer Christoph G. Schmitt den LAV eine "Plattform des Informationsaustausches" nennt. Schmitt repräsentiert den LAV auf geradezu idealtypische Weise, der Deutsch-Kolumbianer führt die Geschäfte mit einer Mischung aus hanseatischer Nüchternheit und lateinamerikanischer Lebhaftigkeit. Er unterstreicht damit gewissermaßen die stets im Hintergrund stehende Funktion des LAV als interkulturelles Forum, wo sich Wirtschaftsweisen und Weltsichten begegnen. Daraus sind viele Geschäftsabschlüsse, aber auch interozeanische Freundschaften entstanden, passend zum Jubiläumsmotto des LAV: "¡Tanto Tiempo! Wir kennen uns schon lange."

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: