Bei uns in Rio:Aufmarsch für die Rente

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Seit zwei Monaten ist in Rio eine Militär­intervention im Gange. Alle Aufgaben der Polizei wurden der Armee unterstellt. Offiziell geht es um die öffentliche Sicherheit, in Wirklichkeit aber hat es wohl mit der brasilianischen Renten­reform zu tun.

Von Boris Herrmann

Seit zwei Monaten ist in Rio eine Militärintervention im Gange. An vielen Ecken sind Soldaten mit Kriegsgerät positioniert. Nachts, wenn wenig los ist, winken sie gönnerhaft Autos über rote Ampeln. Alle Aufgaben der Polizei wurden offiziell der Armee unterstellt - und dazu gehört wohl auch die inoffizielle Neuauslegung der Straßenverkehrsordnung.

Abgesehen davon ist schwer ersichtlich, was diese Intervention bringen soll, die ja ein einmaliger Vorgang ist seit dem Ende der Militärdiktatur 1985. Die Regierung von Michel Temer begründet den Sturm von Rio damit, dass die öffentliche Sicherheit wiederhergestellt werden soll. Aber nicht nur Pazifisten meinen, dass man die Alltagsgewalt nicht mit Maschinengewehren stoppen kann. Das hat gerade auch ein Armeesprecher zugegeben. Wieso dann der Unsinn? Wahrscheinlich hat es mit der brasilianischen Rentenreform zu tun.

Temer selbst sprach von einen "meisterhaften Schachzug." Alles andere als meisterhaft hat er sein bislang wichtigstes politisches Projekt gemanagt, die geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre. Nur wegen dieser Reform wird er von der Wirtschaftslobby unterstützt, daran hängt sein politisches Überleben. Er fand aber keine Mehrheit im Kongress, um die entsprechende Verfassungsänderung durchzusetzen. Die Intervention lieferte ihm einen Vorwand, um das gescheiterte Projekt dezent zu begraben. Denn so lange in einem brasilianischen Bundesstaat ein militärischer Noteinsatz läuft, darf die Verfassung ohnehin nicht geändert werden.

Davon profitiert wiederum das Militär, denn bei der Rentenreform wäre es laut der offiziellen Sprachregelung auch darum gegangen, "Privilegien zu beseitigen". Es genießt aber niemand so viele Privilegien in Brasilien wie die Armee. Nicht nur ehemalige Soldaten beziehen üppige Renten, sondern auch deren Töchter. Und zwar lebenslang. Einzige Bedingung: Sie müssen ledig bleiben. Das führt zu einer bizarren Situation auf dem Heiratsmarkt. Einerseits sind Soldatentöchter dort begehrt, andererseits will sie niemand ehelichen, denn sonst wäre die Pension ja weg. Das Rentenprivileg gilt für Frauen, deren Väter vor dem Jahr 2000 den Militärdienst angetreten haben. Nach der durchschnittlichen Lebenserwartung wird das unverheiratete Töchterheer die Rentenkasse noch bis Ende des Jahrhunderts belasten.

Bei dem Kriegseinsatz in Rio handelt es sich also um einen Schachzug zu Sicherung von Temers Macht sowie um eine Win-Win-Situation für das Militär. Für alle anderen Brasilianer ist es ein Lose-Lose-Aufmarsch.

© SZ vom 20.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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