Autohersteller:Neue digitale Kultur

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Wischen, Wedeln, Sprechen: Die Autos der Zukunft reagieren auf alle möglichen Arten von Befehlen. Vorausgesetzt, sie sind gut programmiert. (Foto: Bosch)

Die Branche benötigt vor allem Software-Ingenieure und Robotik-Spezialisten. Diese aber werden die Arbeitgeber herausfordern. Denn sie halten meist wenig von klassischen Hierarchien und starren Arbeitszeiten.

Von Joachim Becker

Maschinenbau ist die Kernkompetenz jedes Autoherstellers. Und nirgends wird dieser klassischen Ingenieurdisziplin mit mehr Leidenschaft gehuldigt als auf dem Wiener Motorensymposium: "Die Basis des Antriebs im Automobil bleibt noch für lange Zeit, sicher für weitere 20 bis 25 Jahre, der Verbrennungsmotor", erklärte Hans Peter Lenz, Gründer und Leiter des renommierten Branchentreffs Ende April. Alljährlich kommen in der Wiener Hofburg mehr als 1000 Motorenexperten zusammen, darunter Spitzenmanager der Automobilindustrie sowie Techniker und Wissenschaftler aus aller Welt. Klassische Automobil- und Antriebstechnik stehen hier im Vordergrund, das digitale Zeitalter spielt auf dem Wiener Traditionskongress scheinbar eine Nebenrolle. Doch der Schein trügt.

Die Experten wissen nur zu gut, dass die gesamte Branche einen grundlegenden Strukturwandel durchläuft. Audi-Entwicklungsvorstand Stefan Knirsch skizzierte in Wien seine Vision der automobilen Zukunft: "Die komplette Fahrzeugarchitektur wird sich verändern - dies betrifft den Antrieb genauso wie das Fahrwerk, die Automobilelektronik ebenso wie die digitalen Dienste." Im Zentrum dieser neuen Mobilität steht das autonome Fahren: Pkws entwickeln sich zu selbständigen Chauffeuren ihrer Passagiere. "Selbstfahrende Autos werden zu selbstlernenden Autos. Aus unserer Sicht wird das Auto zum zentralen Integrator von künstlicher Intelligenz", so Knirsch, "wir können und werden Motor des digitalen Wandels sein, wenn auch wir disruptive Ansätze verfolgen."

Laut Knirsch sind schon heute 90 Prozent aller Innovationen im Auto elektronikgestützt. Die Weiterentwicklung der Elektromechanik zu höheren Formen der Signalverarbeitung wird sich in den nächsten Jahren rasant beschleunigen. Zu den Wegbereitern gehören IT-Konzerne wie Apple und Google mit ihren App-Plattformen im Auto. Auch Halbleiterhersteller wie Infineon und Nvidia sowie die Lieferanten von Fahrerassistenzsystemen wie Bosch, Conti, Delphi und ZF treiben die digitale Revolution voran. Während viele Autohersteller noch nach einer Strategie zwischen Selbstentwickeln und Outsourcen suchen, hat sich BMW bereits für das "Project i 2.0" im Bereich Elektrik/Elektronik entschieden: "Wir fahren zweigleisig. Parallel zur Evolution bestehender Fahrzeugarchitekturen und Fahrerassistenzsysteme entwickeln wir auch die übernächste Generation des Bordnetzes und der Cloud-basierten Dienste", verrät BMW-Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich.

Forschung und Entwicklung finden gleichzeitig statt, um möglichst viel Zeit zu sparen

Um Zeit zu sparen, finden Forschung und Entwicklung also gleichzeitig statt. Auch Mercedes hat Teile der Forschung und Vorentwicklung mit den angestammten Entwicklungsressorts fusioniert, um das Tempo zu erhöhen. Audi will als Innovationsführer für automatisiertes Fahren im VW-Konzern demnächst ähnliche Umstrukturierungen bekannt geben. Das Problem aller Autohersteller ist der Nachschub an Fachkräften: "In Deutschland gibt es viel zu wenig Forschung und Lehre rund um die künstliche Intelligenz und Robotik. Der Bedarf an gut ausgebildetem Nachwuchs ist zehn bis zwanzig Mal höher, als es die Universitäten hergeben. Da sind die USA weit vorne", sagt Klaus Fröhlich. Allein in diesem Jahr will BMW in Deutschland 500 IT-Experten einstellen. Und der Bedarf wird weiter zunehmen.

Laut einer Prognose der Unternehmensberatung PWC werden bis 2020 etwa 60 Prozent aller neuen Jobs in der Autobranche auf IT-Spezialisten entfallen. Gefragt sind Softwareingenieure und Spezialisten für künstliche Intelligenz. "Wie praktisch jede Branche erfasst die digitale Revolution auch die Automobilindustrie. Diese Entwicklung spiegelt sich im Recruiting der F&E-Abteilungen", sagt Felix Kuhnert, Leiter des Bereichs Automotive bei PWC in Deutschland. Seiner Prognose zufolge wird die Zahl von etwa 16 000 IT-Spezialisten in den F&E-Abteilungen der deutschen Autobauer auf etwa 19 000 bis zum Ende des Jahrzehnts steigen. Signifikant steigen soll im gleichen Zeitraum auch die Zahl der Elektrotechnikingenieure: von momentan knapp 27 000 auf gut 30 000. Die Nachfrage nach klassischen Autoentwicklern wie Maschinenbauer oder Fahrzeugtechniker ebbt hingegen von 50 Prozent auf etwa 44 Prozent ab. Daneben gewinnen weitere IT-getriebene Themen wie Infotainment und Connected-Car-Applikationen an Bedeutung. "Wenn die Autobauer in diesen Bereichen mit Google oder Apple mithalten wollen, kommen sie nicht umhin, massiv in entsprechende Softwarespezialisten zu investieren."

Auf den ersten Blick vollzieht sich der technische Wandel in der Automobilindustrie weniger abrupt als in anderen Branchen. Tatsächlich spielt die Elektronik im Fahrzeugbau schon seit den ersten Bordcomputern und Navigationsgeräten in den 1990er-Jahren eine immer größere Rolle.

Trotzdem rechnet PWC-Experte Kuhnert mit deutlichen Entwicklungssprüngen. 2010 waren gerade einmal 70 Prozent aller Innovationen in der Automobilindustrie auf Elektronik und Software zurückzuführen. Bis 2020 werden es laut PWC-Experte mehr als 90 Prozent sein. "Im Automobilbau wachsen Elektronik und Software immer stärker zusammen. Ein Beispiel ist das autonome Fahren. Hierfür braucht man Sensorik aus dem Elektronikbereich - die daraus generierten Informationen müssen aber wiederum von einer Software verarbeitet werden."

Schon jetzt lasse sich absehen, dass die Autobauer einfache Tätigkeiten ähnlich wie die klassischen IT-Konzerne nach Indien oder Osteuropa auslagern werden und global intensiv in IT-Zentren investieren. "Die in Deutschland angesiedelten F&E-Abteilungen hingegen suchen extrem kreative und innovative Fachkräfte - und müssen sich beim Recruiting an Standards gewöhnen, wie man sie bislang vor allem aus der IT-Branche kennt", sagt Kuhnert. Dazu zählten vergleichsweise hohe Einstiegsgehälter von 80 000 Euro und mehr genauso wie die Forderung nach flachen Hierarchien oder hochflexiblen Arbeitszeiten. "Die Digitalisierung bedeutet für die deutschen Automobilbauer aufgrund dessen auch eine enorme kulturelle Herausforderung", glaubt Kuhnert.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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