Angewandte Konsumkritik:Tauchen im Müll

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In New York fischen Konsumverweigerer Essen aus dem Abfall, nicht nur um Geld zu sparen - sie wollen auch die Verschwendung von Nahrungsmitteln anprangern.

Andreas Oldag

Janet Kalish wühlt im Müll. Mit flinken Händen zerrt sie an schwarzen Plastiksäcken, die sich vor einem Supermarkt in New York türmen.

Sie nennen sich Freegan und durchsuchen Müllcontainer von Supermärkten und Restaurants. Die Bewegung findet in den USA immer mehr Anhänger - auch bei Menschen, die eigentlich genug Geld hätten, um sich ihr Essen zu kaufen. (Foto: Foto: freegan.info)

Heraus zieht Kalish drei große Familienbecher Frucht-Joghurt und ein halbes Dutzend frisch verpackte Sandwiches. Kalish lächelt. "Das reicht fast für eine ganze Woche Frühstück", sagt die 42-Jährige mit den schulterlangen Haaren.

Sie muss sich eigentlich nicht von Abfällen ernähren. Kalish verdient als Spanisch-Lehrerin an einer New Yorker High-School gut. Dennoch zieht sie regelmäßig in abendlichen Touren durch die Straßen Manhattans.

Sie sei aus Überzeugung "Dumpster Diver" (Müllcontainer-Taucher) geworden, sagt sie. "Ich spare viel Geld." Kalish hat sich der Freegan-Bewegung angeschlossen, die in immer mehr Städten der USA für Furore sorgt. Der Name setzt sich zusammen aus "free" (frei) und "vegan" (fleischlos).

Arbeitslos aus Überzeugung

Einer der Initiatoren ist Adam Weissman, ein Tierschützer und Anti-Kapitalist aus Hackensack in New Jersey. "Die Antwort auf den Hunger in der Welt liegt auf den Straßen New Yorks", sagt der 28-Jährige, der sich selbst als Arbeitslosen aus Überzeugung bezeichnet. Mit seinem zotteligen Bart und seinen Schlabberjeans erinnert er an einen Studenten aus der Hippie-Zeit der siebziger Jahre.

Wahrscheinlich hätte der jüngst verstorbene, linksliberale Ökonom John Kenneth Galbraith seine Freude an Weissman. Der junge Mann setzt die Lehren aus Galbraiths berühmtem Buch "Gesellschaft im Überfluss" in einen bewusst alternativen Lebensstil um: Vieles, was auf den Straßen New Yorks als Müll landet, sei das Ergebnis einer beispiellosen Verschwendung der Konsumgesellschaft, glaubt Weissman.

In Hinterhöfen der Luxusläden

"Wir wollen, dass die Leute darüber nachdenken, wie man auch mit weniger auskommt und trotzdem gut zurechtkommt, ohne zu hungern", sagt er. Weissman selbst ernährt sich schon seit fast zehn Jahren auf die "Freegan-Art" - seitdem hat er keinen Supermarkt mehr betreten.

Auf seiner Website ( Website) breitet Weissman seine Weltanschauung aus, hat aber auch praktische Tipps für die Freegan-Fans parat.

So gibt es eine Liste der "Hotspots", der heißen Stellen, wo die Müllsammler im Dschungel der Großstadt am besten Beute machen können. New Yorks teure Gourmetmärkte wie "Garden of Eden" in Chelsea und "Dean & Deluca" in Soho gehören ebenso dazu wie die wegen ihrer frischen Croissants und Baguette-Brote berühmte "Silver Moon Bakery" an der Upper West Side.

Fleisch besser nicht

"Da landen regelmäßig die besten Sachen auf der Straße", weiß der Müllexperte Weissman. Oftmals sei die Ware noch nicht einmal abgelaufen, weil die Geschäfte ihre Regale neu sortieren. Ein Mediziner gibt auf Weissmans Website Ratschläge, wovon man beim Müllsammeln wegen der leichten Verderblichkeit von Lebensmitteln allerdings die Finger lassen sollte: Eier, Fleisch, Fisch und frisch geschnittenes Obst.

Gerade New York, die Stadt des Überflusses und des großen Geldes, ist ein Eldorado für Freeganer. "Es ist erstaunlich, was Supermärkte und Restaurants einfach wegwerfen. Häufig nur, weil sich das Aussehen der Nahrungsmittel nach ein paar Tagen ändert", meint der Ernährungswissenschaftler Brian Halweil vom Umwelt-Institut Worldwatch in Washington.

Zwischen 30 und 40 Prozent der Nahrungsmittel wandern in den USA in den Müll. Nach Angaben des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums sind das mehr als 40 Milliarden Kilo pro Jahr. Diese Verschwendung wird allerdings nicht mehr nur in kleinen Zirkeln von Wissenschaftlern angeprangert.

Das Buch "Fast Food Nation" des Autors Eric Schlosser, das von den schlechten Essgewohnheiten der Amerikaner handelt, avancierte zum Bestseller, ebenso wie der Kinofilm "Super Size Me" - eine kritische Abrechnung mit der Schnellrestaurantkette McDonald's.

Für viele Freegan-Fans geht es in jedem Fall um ein Stück "Wirtschaft von unten", die im Schatten der glitzernden Bürotürme und Bankenpaläste New Yorks sprießt. Zwar wissen die Organisatoren noch nicht einmal genau, wie viele Mitglieder Freegan hat.

Pappbecher für die Party

Doch die wachsende Zahl von Leuten, die sich für nächtliche Streifzüge an verschiedenen Treffpunkten der Stadt einfinden, zeigt, dass Freegan offenbar in eine Marktlücke gestoßen ist. Es ist der Überdruss an der Wegwerfgesellschaft, aber auch die Verlockung, in einer der teuersten Städte der Welt, in der ein Restaurantbesuch sogar für eine durchschnittlich verdienende Familie oftmals unerschwinglich ist, auf relativ einfache Art und Weise Geld zu sparen.

An einem windigen Herbstabend trifft sich ein gutes Dutzend Freeganer im feinen Viertel der Upper East Side New Yorks: Vor den Eingängen von Fast-Food-Restaurants, Supermärkten und Bäckereien türmt sich der Müll. Das ist für Ron Brown wie Weihnachten.

Verzückt packt der 23-jährige Student zwei Dosen Spargel in eine Plastiktasche. Eine Straßenecke weiter findet er vor einem Starbucks-Cafe in der Lexington Avenue eine ganze Charge ungebrauchter Pappbecher. "Die kann ich für meine nächste Party brauchen", sagt Brown. Er ist erst zum zweiten Mal dabei, doch schon überzeugter Freegan-Anhänger.

"Sicherlich muss man sich überwinden, im Müll zu wühlen. Auch die Leute gucken manchmal etwas komisch. Die halten mich für einen Obdachlosen. Doch am Ende lohnt es sich", sagt der junge Mann. Gelohnt hat es sich auch für Lorna Quinn. Die 25-Jährige hat in einem an der Straße abgestellten Rollkoffer einen modischen Rollkragenpullover gefunden. "Für so ein Stück müsste ich in einem Kaufhaus mindestens 35 Dollar zahlen," sagt die Freegan-Anhängerin.

© SZ vom 9.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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