Aktienmarkt in China:"Dann wurde ich gierig"

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Der Börsenboom hat massenhaft Neulinge an Chinas Börsen gelockt, die nun viel Geld verloren haben. Wie konnte es dazu kommen?

Von Marcel Grzanna, Shanghai

Niu Qiang verdient in der Personalabteilung eines belgischen IT-Zulieferers in Shanghai mehr Geld als die meisten seiner Landsleute. Und das zeigt er auch gern. Er wohnt im angesagten Bezirk Xuhui, trägt einen Musketierbart und einen Kurzhaarschnitt. Niu ist einer von Millionen Erstanlegern an Chinas Börsen, die in den vergangenen Wochen viel Lehrgeld bezahlt haben. Seine Bilanz: 40 000 Yuan Minus, das sind fast 6000 Euro. Doch der 30-Jährige trägt den Verlust mit Fassung. Ein Verlust im Wert von ein paar Monatsgehältern sei zwar ärgerlich, aber das werfe ihn nicht aus der Bahn, versichert er. "Mir war von Anfang an klar, dass ich auch verlieren kann", sagt Niu lächelnd. Dass es dann so schnell ging, überraschte ihn aber doch etwas. Davor hatte ihn niemand gewarnt. Im April stieg er in den Aktienmarkt ein, schon zwei Monate später begann das Drama an den Finanzplätzen.

Es ist ein Drama in vielen Akten, und es ist noch nicht zu Ende. Seit dem 15. Juni brach der Leitindex von 5166 auf 3507 Punkte ein. Er hat sich gegen Ende dieser Woche etwas erholt, nachdem die Zentralbank einen weiteren Reanimationsversuch gestartet und "ausreichend Liquidität" versprochen hatte. Ob es der Regierung tatsächlich gelingen wird, den Index rasch auf 4500 Punkte hochzutreiben, um Zahlungsausfälle von Investoren und damit den Beginn einer dramatischen Finanzkrise zu vermeiden, ist allerdings fraglich. Am Freitag schloss der Shanghaier Leitindex bei 3879 Punkte.

In der vergangenen Wochen büßten mehr als 2000 Aktien an einem einzigen Handelstag bis zu zehn Prozent ein. Es war der Moment, in dem die alleinregierende Kommunistische Partei in den Krisenmodus schaltete und alle marktwirtschaftlichen Vorsätze über Bord warf. Zinsen, Mindestreserven, Transaktionsgebühren - alles runter. Nichts half. Sogar erzwungene Stützkäufe durch Maklerfirmen blieben zunächst ohne Wirkung. Die Regierung wirkte mit ihren ad-hoc-Maßnahmen genauso panisch wie Millionen kleiner Anleger, die Angst vor dem Bankrott haben.

An den chinesischen Börsen geht es steil nach oben, das zumindest verspricht dieses Werbeplakat in Shanghai. (Foto: Kim Kyung-Hoon/Reuters)

Es steht viel auf dem Spiel. In China geht es unter dem Strich immer nur um eines: den Machterhalt der Partei. Dazu benötigt Peking eine solide Wirtschaft. Eine starke Konjunktur mündet in mehr Zustimmung der Massen für die autoritäre Elite. Also trieb die Regierung die Börsenwerte über viele Monate künstlich nach oben. Das öffnete die Schleuse für neues Kapital und linderte die Schuldenlast staatseigener Unternehmen. Der Börsencrash gefährdet den fragilen Frieden. "Das Vertrauen der Bevölkerung ist zutiefst erschüttert. Die Glaubwürdigkeit der Kommunistischen Partei ist in Gefahr", sagt Sandra Heep vom Mercator Institut für China-Studien in Berlin.

Börsenneuling Niu hat von Maßnahmen wie Zinssenkungen keine Ahnung. Das gibt er zu. Es interessiert ihn auch nicht. Er verstand die Investition in ein Aktiendepot lediglich als smarten Schachzug, "um das Geld von der Straße aufzuheben". Das war schließlich der Trend der vergangenen Monate. Seine Familie, einige Freunde, sogar ungebildete Handwerker und Bedienungen in chinesischen Restaurants hatten schon Geld mit Aktien verdient. "Wenn die stockende Wirtschaft uns nicht mehr reich machen kann, dann eben die Börse", lautete das Gebot der Stunde. Es war höchste Zeit, den Anschluss nicht zu verlieren, fand Niu.

Die Partei lockte Kleinanleger in den hochspekulativen Markt, weil deren Erspartes für den Börsenboom benötigt wurde. Banken warben für Aktien, Medien erzählten Erfolgsgeschichten. Die Regierung selbst schaffte den anlegerfreundlichen Rahmen. Der Rest war Mund-zu-Mund-Propaganda. Niu Qiang erinnert sich an einen Morgen im Büro, als die Putzfrau mit ihrem Erfolg an der Börse prahlte. "Dann wurde ich gierig", sagt er und lächelt wieder. Kinderleicht sei es gewesen, ein Depot bei einer staatlichen Bank zu eröffnen. Die Aktiengeschäfte überließ er dem Mann seiner Schwester. "Der weiß, was er tut", sagt Niu. Der Schwager arbeitete früher für die Maklerfirma China Securities als Analyst. Heute sitzt er Vollzeit vor dem eigenen PC und versucht, das Familienvermögen mit Aktien zu vermehren. Doch auch er sah den Absturz nicht kommen. "Ich habe ihn gefragt, was passiert ist. Er sagte, es seien antichinesische Mächte am Werk", sagt Niu.

Anleger Qiang Niu: "Mir war von Anfang an klar, dass ich auch verlieren kann." Dass es so schnell ging, überraschte ihn. (Foto: oh)

Wer diese antichinesischen Mächte eigentlich genau sein sollen, weiß niemand so recht. Aber es kommt der chinesischen Regierung gelegen, wenn Verschwörungstheorien die Runde machen. Sie selbst hat Vermutungen geäußert, ausländische Investoren könnten an allem schuld sein. Die Polizei habe deshalb wegen des Verdachts der Marktmanipulation Ermittlungen aufgenommen, hieß es diese Woche.

Die Partei ist extrem sensibel für die Gefahren, die ihren Führungsanspruch bedrohen. Sie warnt Analysten und Mitarbeiter der Finanzindustrie vor allzu skeptischen Prognosen. Sie befürchtet, dass Pessimismus die Kurse weiter in den Keller treibt. Es gibt zwar keine offizielle Regelung, die Experten das Reden verbietet, aber das Schweigen ist ein ungeschriebenes Gesetz. Tatsächlich findet sich kaum ein chinesischer Analyst, der offen über ein Worst-Case-Szenario, also den schlimmsten Fall, sinnieren mag.

"Ich kann telefonisch niemanden erreichen, der mir die Lage an der Börse erklärt", klagt eine junge Journalistin Mitte Zwanzig mit dem Nachnamen Li. Sie arbeitet seit Ende vergangenen Jahres für die Tageszeitung Wenweipo in Shanghai. Mit einem grünen Tee im Pappbecher in der Hand steht sie vor dem Redaktionsgebäude. Stadtzentrum, acht Fahrbahnen, Feierabendverkehr. Es dröhnt in den Ohren. Für Li ist es die erste Krise, die sie als Journalistin begleitet. Aber sie tappt im Dunkeln. Vier Mobilnummern und etliche Festnetztelefone hat sie am vergangenen Dienstag angerufen, um Mitarbeiter von Maklerbüros für eine Stellungnahme zu erreichen. Keine Antwort. "Wenn die deine Nummer nicht kennen, gehen die gar nicht erst ans Telefon", sagt Li.

"Wenn ich eine Krise ausrufen würde, dann bekäme das sehr schnell eine politische Dimension", erklärt der unabhängige Finanzmarkt-Fachmann Pi Haizhou. Wer es trotzdem wagt, setzt seinen Job aufs Spiel. "Aber es gibt keinen Grund zu glauben, dass der Markt noch weiter absinkt. Die Partei wird die Börse jederzeit retten, wenn sie will", schiebt er hinterher.

Aber ist das wirklich so? Oder hat es die Partei zu weit getrieben und erhält jetzt dafür die Quittung? Viele Kleinanleger, die erst bei 4000 Punkten oder noch mehr eingestiegen sind, haben viel Geld verloren. Ein Mann, der am Straßenrand Fahrräder repariert, schimpft auf "die da oben". Vor wenigen Wochen saß er hier und schielte beim Reparieren ständig auf seinen Laptop. Seine Aufmerksamkeit galt den Aktienkursen. Jetzt steht kein Laptop mehr auf dem Schemel. Auch der Radmonteur hat Geld verloren. Er sagt: "Erst wird uns versichert, dass es nichts Besseres gibt als Aktien. Und jetzt sagt uns niemand, was eigentlich los ist."

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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