Rückblick:Anders als gedacht

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Gucci-Designer und Wollpullover-Messias: Alessandro Michele. (Foto: Antonio Calanni/AP)

Ein Messias im Wollpullover und andere Überraschungen: Selten hat die Modebranche so ein turbulentes Jahr wie dieses erlebt.

Von Silke Wichert

Zu dumm, dass es in der Mode keine Wetten wie im Sport gibt. Sonst hätte man dieses Jahr mit ein paar Außenseiter-Tipps ordentlich abräumen können. Vieles ist anders gekommen, als die meisten es erwartet haben.

Das ging gleich im Januar los. Wenn da jemand darauf gesetzt hätte, dass Gucci einen Nobody aus dem eigenen Designteam zum neuen Kreativdirektor ernennen und ausgerechnet dieser putzige Typ im Wollpullover ein paar Monate später als Quasi-Messias der italienischen Mode gefeiert werden würde - er hätte zur Strafe ein Zwangs-Abo der russischen Vogue verpasst bekommen, um noch einmal eingehend den Sex-Appeal von Gucci zu studieren. Jetzt hängen in den Boutiquen statt Sirenen-Kleidern romantische Schluppenblusen und Vintage-Blumen-Anzüge, die Verkäufe gehen durch die Decke und der Wollpullover-Mann wurde zum "Designer of the Year" bei den British Fashion Awards gekürt. Nur die alte Gucci-Kundin versteht die Welt nicht mehr. Am besten geht sie einfach ein paar Türen weiter und lässt sich von Donatella Versace trösten.

Die ewig Unterschätzte macht gerade eine ähnlich erstaunliche Verwandlung durch wie Sylvester Stallone: von eher körperintensiven Leistungen zum späten Charakterfach. Schon ihre Haute-Couture-Kollektion im Juli war erstaunlich gut, aber noch nie wurde etwas von dieser Frau so hoch gelobt wie der Camouflage-Mix für nächsten Sommer. Tatsächlich läuft es gerade auch wirtschaftlich exzellent für die Marke, die Umsätze stiegen zweistellig, Boutiquen schießen aus dem Boden, in Dubai wurde das erste Versace-Hotel eröffnet. Der ein oder andere traut sich bereits, öffentlich zu sagen, dass er eigentlich ja immer schon gewusst habe, was für eine verdammt gute Designerin und toughe Geschäftsfrau hinter dieser gut getarnten Fassade steckt.

Wenn nun alle plötzlich toll finden, was lange Zeit bäh war, wird dann das, was vorher immer alle toll fanden, automatisch ein bisschen bäh? Jedenfalls ist dieses Jahr das schier Unmögliche eingetreten: Modeleute haben Prada kritisiert. Die Handtaschen seien zu altbacken. Die Marken-Strategie fatal. Das China-Geschäft im Eimer. Tatsächlich sind die Gewinne empfindlich zurückgegangen, obwohl die Kollektionen wegweisend wie immer waren. Auch der ewige Branchenprimus Burberry meldete erstmals schlechte Zahlen. Womöglich ist ungebremstes Wachstum doch kein Naturgesetz der Modewelt. Vielleicht lieben die Kunden auch einfach das, was Designer selbst immer predigen: zwischendurch ein bisschen Abwechslung.

Der größte Verlierer des Jahres dürfte Marc Jacobs sein. Seit Nicolas Ghesquière seinen Platz als Chefdesigner bei Louis Vuitton eingenommen hat und dort allmählich zu Hochform aufläuft, wirken Jacobs' gezuckerte Kostümspektakel rückblickend wie aus der Zeit gefallen. Der durchgestylte Designer selbst leider auch ein bisschen. Erst trennte er sich nach 30 Jahren von seinem kongenialen Geschäftspartner Robert Duffy, dann machte die Zweitlinie Marc by Marc Jacobs dicht, obwohl sie bis zu 70 Prozent der Umsätze ausgemacht haben soll. Auf Instagram postete er aus Versehen ein Nackt-Selfie. Vielleicht symptomatisch, um Kleidung geht es bei ihm schon länger nicht mehr.

Und dann gab es natürlich noch dieses Ereignis: Raf Simons verließ im Oktober nach nur dreieinhalb Jahren Dior. Aus persönlichen Gründen, wie es hieß, offenkundig aber, weil der Takt der Kollektionen zu schnell, die Zeit für Ideen zu kurz geworden ist. Es gab vorher keine Gerüchte, keine Anzeichen, nichts. Schon das ist in der tratschsüchtigen Branche eine Sensation. Dass jemand freiwillig, auf der Höhe seines Erfolges geht, erst recht. Dior verzeichnete unter Simons' Führung fantastische 60 Prozent Umsatzzuwachs, die Kollektionen waren seit Jahren nicht mehr so modern, so einflussreich und - für Dior keineswegs immer typisch - sogar tragbar. Überflüssig zu erwähnen, wer hier der Verlierer ist.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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