Porträt:Die Bunte

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Sie ist derzeit die wichtigste Produktgestalterin der Welt. Trotzdem hat sich Patricia Urquiola das Gefühl für spielerische Freiheit bewahrt.

Von Laura Weissmüller

Regeln? "Nein, nein, nein!" Die Antwort schießt aus Patricia Urquiola hervor. Da ist kein Moment des Überlegens, auch kein Zögern. Die Stakkato-Salve wird sofort abgefeuert, mit einer überraschend rauchig-dunklen Stimme für diese zierliche blonde Frau und einem Akzent, der sich tief aus dem Mittelmeerraum herleitet, irgendwo zwischen Italien und Spanien. "Ich bin kein Mensch für Regeln. Ich habe kein Manifest. Ich muss einfach machen. Basta."

Wer die Designerin erlebt, kann spontan zustimmen. Nur mit Mühe bleibt sie beim Interview auf ihrem Stuhl sitzen. Ihre Hände greifen beim Sprechen so weit aus, dass in jedem Moment klar wird: Statt Antworten zu geben, würde sie jetzt sehr viel lieber etwas Richtiges tun. Und wenn schon nur reden, dann zumindest in ihrem Tempo. Das ist so rasant, dass dem Gegenüber schwindlig werden kann. Genauso wie von Urquiolas thematischen Sprüngen. Ist sie in einem Moment noch bei ihrem Studium in Mailand, streift sie im nächsten schon den Umgang mit Zeit bei Marcel Proust, nur um dann bei ihren zwei Töchtern zu landen und wie die ihren Umgang mit Design verändert haben.

Andererseits: Die 1961 in Spanien geborene Patricia Urquiola gehört heute zu den bekanntesten Gestaltern überhaupt. In der immer noch männlich dominierten Welt des Produktdesigns dürfte es kaum eine Frau geben, die so erfolgreich ist wie sie. Egal ob Köln, Mailand oder Paris, es gibt kaum eine wichtige Möbelmesse, wo nicht ein neues Produkt von ihr vorgestellt wird, meistens sind es mehrere. Die bedeutendsten Firmen buhlen um ihre Gunst, denn Patricia Urquiola arbeitet nur mit Menschen, die sie mag. Für Boffi hat die Designerin eine modulare Küche entworfen, in der sie herzhaft die unterschiedlichsten Materialien mixte, Holz und Aluminium, Beton und Lavastein. Für Agape eine frei stehende Badewanne, die der Luxusversion einer Sardinenbüchse ähnelt. Für Moroso quietschbunte Sessel und weitläufige Sofalandschaften. Das italienische Traditionsunternehmen Cassina hat Urquiola vergangenes Jahr gleich zum Art Director gemacht. Ihr Name steht für Erfolg und, was fast noch wichtiger ist: Die Gegenstände, die sie mit ihrem kleinen Team in Mailand entwickelt, heben sich ab von der großen Masse an Neuheiten, die fortlaufend auf den Markt geworfen werden. Sie besitzen eine Handschrift, die sie auszeichnet, fantasievoll, gerne bunt bis zum Augenflimmern, aber immer auch zart und auf ihre Art maßgeschneidert auf den Takt unserer Gegenwart. Und das soll alles ganz ohne Regeln funktionieren?

Sinnlich, farbig und immer neu: Patricia Urquiola hat vom Mantelhaken über Teppiche bis hin zu Badewannen schon alles gestaltet, darunter etliche zeitgenössische Klassiker. (Foto: BOFFI Salinas)

"In Mailand war es normal, Architektur und Design zu verbinden."

"Ok, vielleicht habe ich doch eine. Wenn keiner an dir zweifelt, zweifle selbst an dir. Damit brichst du die Kontinuität. Die ist zwar wichtig, aber wenn du nicht weißt, wie du sie brichst, wird es absolut langweilig." Wann sie diese Regel anwende? Wenn alle mit Nachdruck an einem Projekt arbeiten und es mit voller Kraft vorantreiben, dann - es kann am Anfang des Prozesses sein oder auch schon fast am Ende - gebe es den einen Augenblick, an dem sie alles noch einmal infrage stelle: "Manchmal war dieser Moment sehr wichtig und hat alles entschieden. Manchmal ging's auch einfach so weiter. Meine Mitarbeiter nennen es das Prinzip des Kippmoments. Es kommt einfach über mich."

Vielleicht ist genau das tatsächlich das Erfolgsrezept von Patricia Urquiola. Sie zweifelt an sich, egal wie groß die Zahl ihrer Preise und Auszeichnungen sein mag. Das schützt sie ganz offensichtlich auch davor, sich selbst zu sehr zu wiederholen und dadurch zur eigenen Marke zu erstarren wie so viele ihrer erfolgreichen Kollegen. Urquiolas Handschrift kann man zwar erkennen, aber nicht an den immer gleichen Stilmerkmalen, sondern eher an einer Art Grundhaltung. Entspannt und trotzdem neugierig, so könnte man sie vielleicht am besten beschreiben. Keine einfachen Attribute in der neuen Hochglanzwelt des Designs, in der fast rund um die Uhr Trends ausgerufen werden, nur um sie im nächsten Moment schon wieder zu beerdigen. Sich davon nicht treiben zu lassen und trotzdem aktuell zu bleiben, wirkt da wie ein veritabler Balanceakt.

(Foto: BOFFI Salinas, Tommaso Sartori)

Nicht für Urquiola. Für sie sei es einfach wichtig, regelmäßig "ihre Komfortzone zu verlassen". Ihr Architekturstudium beendete sie deswegen nicht in Madrid, wo sie es begann, sondern in Mailand. Und zwar bei einem der besten Nachkriegsdesigner Italiens: Achille Castiglioni. "In Mailand war es normal, Architektur und Design zu verbinden. In Madrid hätte ich das nie getan." Heute genießt es die ausgebildete Architektin, zwischen den Bereichen hin- und herwechseln zu können. Gerade hat sie die komplette Innenarchitektur eines Hotels entworfen. Gleichzeitig arbeitet sie an neuen Produkten. Manchmal mache es das zwar etwas schwierig. Aber: "Indem ich von einem Bereich zum anderen springen kann, komme ich auf neue Ideen."

Auch so eine Urquiola-Regel: zusammenbringen, was nicht zusammengehört

Ihr Ziehvater Castiglioni, bei dem sie später mehrere Jahre als Assistentin arbeitete, lehrte sie aber noch etwas anderes: Freiheit. Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre war die Hochzeit der Postmoderne, die experimentelle Gruppe Memphis feierte mit ihren grellen Anti-Designs ihre größten Erfolge. Kaum ein junger Gestalter, der sich dieser Strömung entziehen konnte. "Castiglioni gab mir den Mut, die Grenzen der Postmoderne zu überwinden. Was gar nicht so einfach war, weil sie damals so stark war." Der italienische Designer lieferte dabei selbst das beste Vorbild ab: "Er war Rationalist, sehr klar, aber eben auch sehr neugierig und mit einem großen Freiheitsbedürfnis." Castiglionis Entwürfen sieht man das sofort an. Sie sind minimalistisch, fast streng, aber doch immer auch überraschend - wer hat schon vor ihm einen knallroten Traktorensitz zu einem Designsessel erkoren? Oder eine fast ganz normale Glühbirne so an ein Seil verschraubt, dass sie einer Hollywoodschen Spotlight-Beleuchtung ähnelt?

Diesen "freaky freedom" hat sich Patricia Urquiola bewahrt. Für sie gibt es keine Grenzen. Häuser gestaltet sie genauso wie Industrieprodukte. Wobei sie betont, dass es nur so wirkt, als würde sie im Akkord entwerfen: "Die Leute sehen immer nur die fertigen Produkte. Gerade arbeite ich zum Beispiel nur an vier Dingen. Für mich ist das wie die Arbeit eines Gärtners. Jedes hat seinen eigenen Zyklus. Wie in einem Garten blüht dann manchmal alles gleichzeitig, aber die Zeit, die man daran gearbeitet hat, ist sehr unterschiedlich."

Ihre Freiheit hat sich Patricia Urquiola aber auch in der Frage bewahrt, wie sie entwirft. Wenn sie zum Beispiel an einer neuen Kaffeemaschine arbeitet, studiert sie nicht einfach nur all die Kaffeemaschinen, die bereits entworfen wurden, sondern versucht, eine Verbindung zu ihrer eigenen Erinnerung zu ziehen. Das muss nichts mit Kaffeemaschinen zu tun haben. Es kann ein Galeriebesuch vor Jahren gewesen sein oder eine Reise. Letztlich unterscheidet sich Produktgestaltung bei ihr damit nicht von jeder anderen kreativen Arbeit. "Es hängt von meinem Inneren ab, was dabei herauskommt." Zusammen bringen, was eigentlich nicht zusammen gehört. Auch das könnte man also als eine Urquiola-Regel begreifen. Wobei man sich davor hüten sollte, dieses Verbinden allein auf ihre Freude an Materialmix, Technikkombinationen und Farbexzessen zu beschränken. Optisch springen die zwar sofort ins Auge: Kanarienvogelgelb stellt die Spanierin neben Himmelblau, Edelstahl kombiniert sie mit Holz und buntem Plüsch, Handarbeit mit Serienproduktion, was ihren Objekten diese typische Leichtigkeit, ja Lebensfreude verleiht. Doch für die Designerin geht der Gestaltungswille tiefer: "Etwas zu verbinden hat mit der Gesellschaft zu tun, die um einen herum ist. Und damit, neugierig zu sein. Jeden Morgen neu. Auf die langsamen Dinge und auf die, die sehr schnell ablaufen." Und, das ist Urquiolas besonders wichtig: Verbinden hat nichts mit dekorativ aufeinander Abstimmen zu tun, es sei vielmehr das genaue Gegenteil davon. "Dieses Matching ist ein absurd komisches Spektakel. Verbinden dagegen ist die echte Art, etwas zusammenzubringen und hat mit Kultur zu tun."

(Foto: Glass Italia)

Etwas zusammenzubringen, was anderen eher schwerfällt, gelingt Urquiola auch in ihrem Privatleben. Mit ihrer Familie lebt sie in Mailand in demselben Haus, in dem sie auch arbeitet. Ihr Mann und die beiden Töchter wohnen oben, ihre Mitarbeiter trifft sie ein paar Stockwerke drunter. Fällt es ihr manchmal schwer, zwischen Privatem und Beruf zu trennen? "Überhaupt nicht. Ich mache das jeden Tag. Ich habe kein Problem damit, diese Linie zu ziehen, genauso wie ich kein Problem habe, zwischen den Projekten hin und her zu springen. Das ist eine Frage der Konzentration. Wenn ich etwas beendet habe, war's das."

"Die Szene wird vielfältiger. In Kürze werden wir mehr Frauen sehen."

Gleichwohl beeinflusst das Leben als Mutter ihre Arbeit als Designerin. Nicht, weil nun die Dinge etwa besonders praktisch sein müssten oder familienfreundlich. Es ist das Konzept von Zeit, das sie heute besser verstehe. "Man erkennt, dass sich Dinge kontinuierlich entwickeln. Mit Kindern verändert sich täglich etwas. Das heißt nicht, dass ständig alle Regeln über Bord geworfen werden, aber es kann passieren."

Je länger man sich mit Urquiola unterhält, desto stärker wird der Eindruck, dass ihr vieles leichtfällt, woran andere scheitern. Familie und eigene Firma zu vereinen zum Beispiel. Oder sich als Frau im Produktdesign durchzusetzen. Neben der Spanierin gibt es eigentlich nur noch die Niederländerin Hella Jongerius und die Französin Inga Sempé, die ähnlich erfolgreich sind. Ansonsten heißt es im Design immer noch: Men only. Doch das ändere sich gerade, findet Urquiola. Heute braucht ein Designer nicht mehr die eine große Firma, die von seinem Produkt überzeugt ist und ihn jahrelang aushält. Über Crowdfunding lassen sich Entwürfe bis zur Serienproduktion finanzieren. Die eigene Homepage fungiert als Werbekampagne, Kundenkontakt und Vertriebsweg. "Die Szene wird vielfältiger", sagt die Designerin. "In Kürze werden wir mehr Frauen darin sehen." Falls es damit noch etwas länger dauert, hilft beim Warten Patricia Urquiolas entspannter Umgang mit Zielen. Die mag sie nämlich genauso wenig wie Regeln: "Wenn man sie nicht erreicht, ist es frustrierend. Und wenn man sie erreicht, ist es doppelt frustrierend, weil man dann nichts mehr hat, worauf man hinarbeiten kann."

(Foto: DePadova Bergere, Mathieu Goradesky)
© SZ vom 10.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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