Geschmackssinn:Optische Täuschung

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Wein im Dunkeln: ob weiß oder rot ist dann kaum mehr zu erkennen. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Kaum etwas manipuliert den Geschmackssinn so wie unser Sehvermögen. Drastisch zeigt sich das beim Wein, der im Dunkeln völlig anders schmeckt.

Von Patrick Bauer

Wer je an einer Weinverkostung teilgenommen hat, der wird ihn kennen, den Gröcaz - den größten Connaisseur aller Zeiten. Denn einer ist ja leider fast immer dabei.

Der eine Supertyp, dessen Geschmackssinn nicht nur in der Champions League zu spielen scheint, sondern der das auch gern allen zeigt. Während andere unsicher (und vielleicht sogar etwas verschämt) Dinge wie "schmeckt", "der hat viel Holz" oder "gut zu Fleisch" murmeln, will der vermeintliche Kenner bereits an Farbe und Schlierenbildung die Rebsorte und den Alkoholgehalt erkannt haben. Er riecht und schmeckt schwarze, leicht reife Johannisbeere, ja sogar Heidekraut. Er schwafelt von Sonne und Terroir. Und er ringt auch dem laschesten Gewürztraminer noch eine versteckte Litschi-Note ab. "Ja, schmecken Sie das denn nicht? Nein?"

Nein! Aber beachten wir den Connaisseur am besten gar nicht. Denn Schmecken ist kompliziert, ein multisensorisches Erlebnis. Selbstverständlich spielen Nase, Zunge und Gaumen dabei eine Rolle. Doch im Grunde wirken alle Sinne auf unseren Geschmack und machen damit jedes Weinerlebnis subjektiv.

Den Testern schmeckte der Wein am besten, wenn der Raum rot oder blau beleuchtet war

Der erste Eindruck eines Weins ist der visuelle. Welche Farbe hat er? Ist er matt und trüb oder feurig und glänzend? Sofort machen sich die ersten Erwartungen breit. Sie können enttäuscht oder bestätigt werden, bestimmen aber immer, wie uns der Wein schmeckt. Besonders drastisch zeigte das der französische Wissenschaftler Gil Morrot, der Önologie-Studenten roten Wein vorsetzte. Was die Profis nicht wussten: Morrot hatte Weißwein mit - geschmacksneutraler - Farbe versetzt. Bei der Bewertung bemerkte keiner der 54 (!) Probanden den Schwindel. Dem Weißwein wurden sogar typische Rotweinaromen zugesprochen. Mainzer Psychologen fanden außerdem heraus, dass die Farbe des Umgebungslichts den Geschmack beeinflusst. Den Probanden schmeckte Wein am besten, wenn der Raum rot oder blau beleuchtet war, weißes und grünes Licht machten ihn dagegen schlechter.

In der Weinwelt sind aus nachvollziehbaren Gründen Blindverkostungen üblich, schießlich sollen die Tester nicht voreingenommen sein. Flaschen werden deshalb abgedeckt, der Wein in blickdichte Gläser gefüllt. Doch was passiert, wenn man Wein trinkt und gar nichts sieht? Die Fattoria "La Vialla" wollte das genauer wissen. Das Weingut in der Nähe von Florenz arbeitet biodynamisch und ist eine der bekanntesten kulinarischen Adressen in der Toskana. Doch einige vermeintliche Weinkenner würden die Weine schon aus Prinzip niemals trinken, denn "La Vialla" verkauft nur im Direktvertrieb, zu vergleichsweise günstigen Preisen: Der Chianti Superiore etwa kostet 6,35 Euro.

Kürzlich lud "La Vialla" zur Blindverkostung der besonderen Art, um seine Weine gegen große Weingüter aus der Toskana antreten zu lassen. Im Dialogmuseum in Frankfurt führten blinde Guides die Runde in ein völlig abgedunkeltes Restaurant. In fünf Gängen wurden je zwei Weine gegeneinander verkostet. Informationen gab es keine. Kein andächtiges Schwenken im Gegenlicht, keine Analyse von Farbe und Intensität, kein Blick auf die Etiketten. Nase und Gaumen waren die einzigen Hilfsmittel. Im Anschluss wurden die Weine dann ein zweites Mal verkostet. Im Licht und mit Etikett. Zwei Weißweine, die im Dunkeln völlig unterschiedliche Strukturen zeigten, erwiesen sich hier zum Beispiel als zwei "Vernaccia" im gleichen Preissegment. Auch hatte im Dunkeln keiner der Verkoster erkannt, dass gegen den "L'Abbandonato" von "La Vialla" ein sechsmal teurerer Konkurrent angetreten war.

Der Geruchssinn ist bei Dunkelheit nicht nur präziser, sondern auch intensiver

Solche Blindverkostungen gibt es nur in wenigen Städten. Es geht aber auch zu Hause. Licht aus, Sinne an. Der Geruchssinn ist in der Dunkelheit nicht nur präziser, sondern auch intensiver. Preis, Licht und Farbe des Weins spielen keine Rolle mehr.

Der amerikanische Neurowissenschaftler Gordon Shepherd hat untersucht, wie Geschmäcke und Gerüche im Gehirn verarbeitet werden. Der Geruchssinn ist extrem stark mit dem Emotionszentrum des Gehirns verbunden. Das erklärt auch, dass Gerüche bei uns lebhafte Erinnerungen wachrufen können. Shepherds Fazit: Der Mensch ist ein außergewöhnlicher Feinschmecker. Weinverkosten sei ein hochkomplexer Vorgang, bei dem mehr Gehirnfunktionen in Anspruch genommen würden als bei jeder anderen Tätigkeit. Wir könnten unzählige Aromen erkennen, aber was der Einzelne dann genau schmecke, sei hochgradig individuell.

Unsere Gehirne funktionieren ähnlich, doch wie die Informationen im Detail verarbeitet werden, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und dazu den Umständen geschuldet. Jeder genießt eine Flasche Wein ein wenig anders. Darüber kann man sich vorzüglich unterhalten. Nur streiten sollte man nie. Denn recht haben am Ende alle - und niemand.

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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