Essay:Der Anti-Chic

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Nackte Wände, Industrieruinenromantik und Jute-Beutel: Nach der Wende entstand in Ostberlin eine Ästhetik des Unfertigen und Provisorischen, die bis heute stilbildend ist.

Von Peter Richter

Ein Münchner Architekt, der später viel in den Plattenbautengebieten des Ostens zu tun hatte, wurde einmal gefragt, was ihn nach dem Mauerfall in Ostberlin und Leipzig am meisten beeindruckt habe. Da fing er an, von herber Nacktheit zu erzählen. Es ging ihm dabei aber nicht um hüllenlose Rentner am FKK-Badestrand, es ging ihm um die Gesamtanmutung des untergegangenen Landes. Der Mann aus München sprach von der Ehrlichkeit der Oberflächen, von der Rauheit der Materialien und von der Bandbreite an shades of grey (deutlich mehr als fünfzig.) Wo er herkomme, so fügte er hinzu, sei so gut wie jedes Haus über die Jahre wieder und wieder angestrichen und gegen eine mutmaßlich feindliche Umwelt so porentief versiegelt worden, dass die Substanz der Stadt gewissermaßen unter Schichten von Hochglanzlack begraben sei.

Nackte, narbige Wände waren kanonisch geworden waren für das Wohnen und Ausgehen der trendbewussten Klassen

Das klang natürlich gleich auch wieder so metaphorisch, als ob das nicht nur für die Immobilien zu gelten schien. Es war nach diesen Erläuterungen jedenfalls schwer, in der bayrischen Landeshauptstadt nicht immer auch einen sehr üppig glasierten Donut zu sehen, mit dem Marienplatz sozusagen als dem Loch in der Mitte. Zugleich schien damit aber auch schön bündig beschrieben, warum damals so viele von dieser einen Welt, der grauen und rauen, in die andere wollten, die milchfarbene und glatte. (Und man muss nur mal ältere Ostberliner fragen: Herrlich, diese übereinstimmenden Schilderungen der leichten Erstirritation darüber, dass es in Wedding oder Kreuzberg gar nicht mal soooo viel anders aussah als in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain.)

Was hat es unter diesen Umständen zu bedeuten, wenn dem Besucher in München jetzt dauernd Lokale empfohlen werden, die im Stil von Berlin-Mitte gehalten seien? "Wie Berlin-Mitte" - manchmal noch mit dem Zusatz "früher". Wer diese Lokale nicht kennt, sondern nur Berlin-Mitte, ahnt trotzdem, welches "früher" da gemeint sein muss. Sicher nicht die Zeit, als hier die Regierung der DDR ihren Sitz hatte und die Altbauviertel, die heute zum Teuersten in Berlin gehören, dem Tod durch die Abrissbirne mittels Selbstzerbröckelung zuvorzukommen suchten. Vielleicht auch nicht die Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall, als man über Trümmerberge in wummernde Partykeller stieg, immer in Sorge, einem noch nicht auf den neuesten Stand gebrachten Grenzsoldaten ins Schussfeld zu geraten.

Wenn in München ein Biergarten auf dem Gelände eines ehemaligen Schlachthofs von mehreren Leuten unabhängig voneinander als "sehr Berlin-Mitte" gelobt wird, dann ist die Referenz offensichtlich das Nachwende-Berlin der mittleren und späten Neunzigerjahre. Die Zeit also, als nackte, narbige Wände, eine gewisse "roughness" verbunden mit der Aura des Selbstgebastelten und Umgenutzten fast schon kanonisch geworden waren für das Wohnen, Arbeiten und Ausgehen der trendbewussten Klassen.

Die Berliner Verlegerin Angelika Taschen, eine Frau, die durchaus ein bisschen herumgekommen ist in der Welt der verfeinerten Geschmäcker, hat es in einem Interview mit dem Magazin The European vor einiger Zeit so formuliert: "Der Osten hat nach der Wende viele Menschen angezogen, die sich hier ausprobieren konnten, die Mieten waren billig, und auch sonst gab es keine verkrusteten Strukturen. Damit hat sich auch ein ganz eigener Lebensstil entwickelt, der inzwischen ausgeprägt und beschreibbar ist." Bezogen auf die in diesem Habitat heimische Mode zum Beispiel so: "Wie die Stadt selbst sind das Unfertige, das Unperfekte und die Brüche ein Thema, wir nennen es den Berliner Anti-Chic. Zum Abendkleid darf es auch mal eine Lederjacke oder ein Jutebeutel sein."

Das ist so unzweifelhaft richtig beobachtet wie es gleichzeitig im Kern eine tragische Botschaft birgt. Denn das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Stil und seiner geografischen Verortung im Osten (und zwar auch nur dem Berlins, und dort wiederum genau genommen lediglich im westlichsten Teil davon) sind tatsächlich die Brüche und Widersprüche, die in der Sache selbst stecken.

Dass nämlich der Jute-Beutel die Handtasche ersetzt, gilt auch für die Aktivistinnen des Berliner Anti-Chics oft nur solange, bis genug Geld für, sagen wir, die Trio Bag von Céline beisammen ist. Und dass der Tanz auf erloschenen Vulkanen, symbolisiert durch die Schlote stillgelegter Industrien, heute mit dem Osten assoziiert wird, hätte man dort einem Brigadeleiter vor 25 Jahren auch nicht erzählen dürfen, ohne es mit seinen Proletarierfäusten oder dem Werkschutz zu tun zu bekommen.

Vor dem 3. Oktober 1990 wurde in den Fabriken der DDR zwar auch schon nicht gerade wenig Bier getrunken, aber das geschah immer noch während der Arbeit. Erst nachdem pünktlich mit dem Tag der Vereinigung das sogenannte "Abwickeln" begann, standen die Betriebe der DDR als Freizeitanlagen zur Verfügung, dann allerdings in überwältigender Anzahl. Dass auch Industrieruinen im romantischen Sinne etwas Malerisches haben, dass sie als geschichtsgedüngter Mutterboden das Neue inspirieren, dass hier Verfall in Archaik, Überalterung in Jugend, Armut in Sexiness umschlagen: Das ergibt im Rückblick ein schönes, vielleicht etwas arg beschönigendes Sinnbild für den Osten mit seinen vielen gebrochenen Biografien. Die allermeisten Leute dort hätten sich damals vermutlich gewünscht, einfach weiterarbeiten zu dürfen.

Der Beitrag der Ostdeutschen zu diesem Stil beschränkt sich im Grunde auf das Bereitstellen von Industrieruinen

Die Vorstellung, dass Industriegebäude als "Locations" für "Events" interessant sein könnten, ist bis in die Terminologie hinein eigentlich ein lupenreiner West-Import. Westberlin war weitgehend deindustrialisiert. Im Ruhrgebiet wurden die alten Zechen von der Kulturförderung neu befüllt. Und dass es aufregender sein kann, Musik in Lagerhallen zu hören als in Konzertsälen, so wie es auch cooler sei, in Fabriketagen zu schlafen statt in Wohnungen: Das ist ja wohl etwas, das zuerst von Leuten erzählt wurde, die sich ein wenig in New York umgeschaut hatten. Das nackte Mauerwerk, das manche Münchner heute an Berlin denken lässt, ist in der amerikanischen Metropole eher eine Chiffre für Downtown Manhattan oder Brooklyn, wo die "exposed brick wall" so unvermeidlich zu einer anständigen Wohnung gehört wie die guillotinenartigen Schiebefenster und das klopfende Heizungsrohr.

Aber auch die Stonewashed-Jeans und die Rudi-Völler-Frisuren, die den Ostdeutschen um 1990 herum viel Häme eingebracht haben, waren ja nicht deren Erfindung gewesen.

Der aktive Beitrag der Ostdeutschen zu diesem Stil des Unfertigen und Gebrochenen beschränkt sich im Grunde auf das ökonomische Scheitern, das Bereitstellen von Industrieruinen, billigen Wohnungen und erodierten Strukturen. Alles andere, vor allem die ästhetische Bewirtschaftung, ist überwiegend Westarbeit. West im Sinne von: Die Leute, die in Plattenbauwohnungen in Berlin-Friedrichshain oder inzwischen sogar Marzahn die Tapete abnehmen, damit der Beton freiliegt, sind in aller Regel nicht dort aufgewachsen. Sowie Arbeit im Sinne von: Der sogenannte Anti-Chic ist eine hochartifizielle Sache; man muss schon auch ein Händchen dafür haben.

Und das gilt nicht nur für Gastronomen, Mitte-Mädchen, Clubbesitzer, Designer und Styler. Das gilt auch für die vielen Architekten, die mit möglichst baustellenhaft nackt gehaltenem Beton und zur Schau gestellter scheinbarer Unfertigkeit gegen ein Umfeld anbauen, in dem alles seit 25 Jahren so entschlossen überspachtelt und eingelackt und eingepackt und im originalgetreuen Barock neuerfunden wurde, als habe sich der Osten mit den Mitteln des Baumarktes in eine Vulgärversion von jenem "München" verwandeln sollen, das der Münchner Architekt, der dann soviel in den Plattenbaugebieten Ostdeutschlands gewirkt hat, damals offensichtlich meinte.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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