Digitales Leben:Sich selbst der Nächste

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Self-Care ist das neue Codewort für den Rückzug ins Private. Denn wer gesund und glücklich sein möchte, kommt um die Selbstfürsorge nicht herum. Allerdings sollte man auch nicht mit Scheuklappen durchs Leben gehen.

Von Julia Rothhaas

10.28 Uhr - Bitte guck doch einfach mal an die Decke.

11.28 Uhr - Bitte hör dir ein Lied an, dass dich glücklich macht.

12.28 Uhr - Bitte nimm ein paar tiefe Atemzüge.

Doch, der "tinycarebot" meint es gut mit einem. Er erinnert seinen Follower auf Twitter stündlich daran, sich doch jetzt mal einen Moment Zeit für sich zu nehmen, "self-care" eben. Denn wer gesund und glücklich sein und bleiben möchte, kommt um die Selbstfürsorge nicht herum. Mit dem neuen Schlagwort kann im Netz alles gemeint sein: ein bisschen Yoga, früh ins Bett, eine Runde um den Block, eine Kerze anzünden, jemanden umarmen, auf Kohlenhydrate verzichten, einen Hund streicheln. Die Kosmetik-Gurus von "Into The Gloss" haben ein zehnstündiges Self-care-Programm mit Gesichtsreinigung und Maske ausprobiert, auf tinybuddha.com wird man ermutigt, sich selbst nackt zu betrachten, und auf der Pinnwand von Pinterest findet man Hunderte Listen, die Vorschläge für die Selbstoptimierung bereithalten.

Allein auf Instagram gibt es über 1,7 Millionen Beiträge mit dem Hashtag Selfcare, denn der selbstgemachte Eintopf oder das morgendliche Bad in Lavendelöl müssen schließlich irgendwie betitelt werden. Was hat man davon, wenn keiner mitbekommt, wie gut man es sich gehen lässt?

Das klingt nach Quatsch und Hygge-Hörigkeit, ist es aber eigentlich nicht. Die Weltgesundheitsorganisation sieht Selbstpflege als Maßnahme, gesund zu bleiben, Krankheiten vorzubeugen oder mit einer Krankheit umzugehen. Menschen, die Kranke oder Behinderte betreuen, werden regelmäßig angehalten, sich bei der Pflege nicht selbst zu vergessen, und Burn-out-Patienten müssen lernen, sich wieder zu spüren. In der gesamten Antike galt die "cura sui" als eine grundlegende Verhaltensregel, und der Philosoph Michel Foucault sah die Selbstsorge gar als Imperativ, der alle Formen des Verhaltens zu begleiten habe, unabhängig von Alter und sozialem Status.

Dass es der Begriff aber jüngst zu großer Beliebtheit geschafft hat, liegt nicht an einer sprunghaften Zunahme von ach so achtsamen Menschen, sondern an weltpolitischen Ereignissen: Auf Google erreichte der Suchbegriff "self-care" im November 2016 jedenfalls seinen Höchststand - kurz nach der Wahl von Donald Trump. Schon vor der Wahl gab die Huffington Post Tipps, wie man die Anspannung des Wahlkampfs am besten übersteht (z. B.: Disco-Bowling), für den Blog des New Yorker führte eine Autorin nach der Wahl ein Self-care-Tagebuch und die amerikanische Glamour hielt fünf Self-care-Ideen bereit, wie man die Amtseinführung übersteht (etwa: Masturbieren). Botschaft all dieser Ansätze: Wenn es schon im Großen nicht mehr so gut läuft, bleibt uns immer noch das kleine Glück, also ab unter die Decke.

Die neue Freude an der Sorge um sich selbst ist aber auch verführerisch, schließlich sagt sie nichts anderes als: lieber Augen zu als durch. Aber wer auf Dauer Scheuklappen trägt und nicht hinschauen will, der macht sich automatisch zum Teil des Problems. "Die Gefahr des Trump-Regimes ist, dass die Menschen demoralisiert werden und sich zurückziehen, um in privaten Vergnügungen Zuflucht zu suchen", sagt der US-amerikanische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Jamie Kalven. Und die neuseeländische Autorin Chloe King schreibt: "'Denk positiv' ist der Vorgänger von 'Wird schon'. Doch die bittere Realität ist: Es wird dadurch nur viel, viel schlimmer für unsere Schwächsten." Keine Nachrichten zu gucken, heißt eben noch lange nicht, dass auf der Welt nichts passiert.

Die Sorge um sich selbst ist also zum Missverständnis geworden: Es geht nicht darum, wer das schönste Bild von seinem Açai-Brei postet und wie sich das Ausmalbuch für Erwachsene verkaufen lässt. Sondern wie man es schafft, neue Kraft zu schöpfen für Bemühungen im Kleinen und Großen. Am Ende gilt eben auch hier die alte Flugzeugregel: Die Sauerstoffmaske erst selbst überziehen und dann den anderen helfen.

© SZ vom 18.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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