Die Web-Falle:Netzetikette

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(Foto: Grafik)

Die wichtigste Regel im Internet? Alles kann, nichts muss! Trotzdem wünscht man sich oft ein bisschen mehr Achtsamkeit in den sozialen Netzwerken. Höchste Zeit für ein paar einfache Hausregeln.

Von Max Scharnigg

Natürlich ist das Web unter anderem deswegen so großartig, weil man sich darin aufführen kann, wie man will. Es braucht keine Anstandsregeln, weil die Menschen sich unentwegt auf die Füße treten oder an die Gurgel gehen können, aber trotzdem niemand körperlich zu Schaden kommt. Trotzdem könnten einer Gesellschaft, die weite Teile ihres Zusammenlebens ins Netz verlagert hat, ein paar webspezifische Anstandsideen nicht schaden. Schließlich war der Vorteil von Etikette und gutem Benehmen schon immer, das Zusammenleben von Menschen bekömmlicher zu machen und Missverständnisse zu vermeiden.

Der Flirt

Beim virtuellen Anbahnen kuppeln Algorithmen, und wer mehr sehen will, muss die Kreditkarte zücken - für romantische Knickse, Blumen im Knopfloch und fallen gelassene Taschentücher ist also weder Platz noch Zeit. Das macht nichts, denn der Oberflächlichkeit sind sich ja alle Teilnehmer bewusst. Die neue Flirt-Etikette ist deshalb nüchtern: Klar und freundlich bleiben schlägt Copy-Paste-Liebesbrief-Gesülze. Auch die bemühten Versuche, in wenigen Chat-Zeilen geheimnisvoll, geistreich und cool zu wirken, sind eher Überbleibsel aus alten Zeiten - und gehen ohnehin meistens daneben. Weg damit! Besonders knifflig bleibt die erste Anrede, man kann dabei den ganzen Kontakt vergeigen. Alles Anzügliche verbietet sich ebenso wie übermäßig gezierte oder sonst wie exotische Wendungen. "Holde Schönheit" oder "Geheimnisvoller Prinz!" wirken noch falscher, wenn man sich vorstellt, wie oft sie schon recycelt wurden. Anrede einfach weglassen ist keine Lösung, so brüsk kommt man höchstens beim Sex-und-Hopp-Dienst Tinder vorwärts. Empfehlenswert ist das simple Understatement eines "Hey, du!" Mit richtiger Kommasetzung schon fast wieder elegant.

Anders als beim spontanen Flirt in Bar oder Bahn hat man bei Flirtportalen genügend Zeit, sein eigenes Schaufenster zu gestalten. Seltsam, dass viele Profile trotzdem wirken wie ausgespuckt. Dabei sind gerade sorgfältig ausgesuchte Fotos elementar. Wichtigste Regel: Es sollten keine unbeteiligten Dritten zu sehen sein, schon gar nicht gepixelte Ex-Partner oder wehrlose Kinder. Speziell an Männer geht die Erinnerung, dass man nicht mit einzelnen Körperteilen punkten kann, sondern zumindest einmal versuchen sollte, als Gesamtpaket zu überzeugen. Fotografisch stolz dokumentierte Kontrollverluste und aufgestellte Trinkrekorde sind zukünftigen Romanzen ebenso abträglich wie textile Extreme. Kleine Hilfestellung: Ein Foto, das man auch der Schwester der besten Freundin zeigen würde, dürfte okay sein.

Das Eigenlob

Egal, ob auf der Kurztextschleuder Twitter oder Facebook und Instagram: Überall werden prestigeträchtige Einladungen, erhaltene Preise, bestandene Prüfungen und Beförderungen pflichtschuldig und mehrfach vermeldet, manchmal auch nur absolvierte Trainingseinheiten und Läufe über 4,8 Kilometer. Gerade ältere Quereinsteiger aus der Kreativbranche verstehen die sozialen Boards nahezu ausschließlich als Ticker für ihre Ego-News, da werden auch lobende Leserbriefe extra eingescannt und jeder banale Zuspruch gnadenlos retweetet. So ganz übel nehmen kann man ihnen das nicht, schließlich sind die Plattformen als Ich-Maschinen angelegt.

Es wäre trotzdem gut, sich auch online mit Eigenlob so zu verhalten wie im echten Leben, es also nur dezent einzustreuen und vor dem Rausposaunen zumindest über Relativierungsfloskeln nachzudenken. Nette Faustregel könnte außerdem sein: Auf ein Mal Eigenlob sollte man zehn Einheiten der anderen loben bzw. liken. Und je größer der Triumph, desto leiser muss die entsprechende Selbstwürdigung ausfallen. Schließlich sollte man lieber darauf vertrauen, dass anderen nette Worte dazu einfallen.

Emojis

Emojis (Früher: Emoticons, noch früher: Smileys) waren mal eine Hilfe angesichts fehlender Mimik und Gestik in der Netzkommunikation. Wenn man sehen oder hören würde, wie jemand den Satz "Heute kam nette Post vom Finanzamt!" sagt, würden sich kotzende oder augendrehende Gesichter dahinter erübrigen.

Vielfach ersetzen die Dinger heute aber auch Satzzeichen und sämtliche anderen Textstrukturen oder dienen bei nichtssagenden Postings als Sättigungsbeilage: Statt fünf Ausrufezeichen sorgen dann eben fünf gleiche Emojis für Aufmerksamkeit bzw. Abstand zwischen den Worten. Das ist, als würde man im echten Leben zwischen zwei Sätzen eine Trillerpfeife benutzen und unentwegt hart Grimassen schneiden.

Tatsächlich zermürben die Witzzeichen das Auge, haben nur sehr geringe Halbwertszeiten und sind oft gänzlich unpassend. Ein äußerst limitierter Einsatz scheint der einzig zulässige Umgang, und das beste Emoji ist immer das unerwartet gesetzte. Wer merkt, dass er Probleme hat, Texten ohne Hilfe von Emojis die richtige Botschaft mitzugeben, ist vermutlich süchtig und sollte zwei Wochen kalten Entzug machen.

E-Mail und Co.

Trotz ihres Alters hat sich für die E-Mail immer noch keine verbindliche Form-Etikette durchgesetzt. Die rigiden Regeln des Briefschreibens einfach zu übertragen, hat der Schnelligkeit des Mailverkehrs nie so richtig Rechnung getragen.

Andererseits ist eine E-Mail deutlich seriöser als Whatsapp-Botschaften - je flitzpiepiger die Konkurrenz, desto ehrwürdiger wirkt eine ganze, echte, handgetippte Mail, die mit einem "pling" ins Postfach flattert. Sie ist deswegen der einzig verbliebene Nachrichtenträger, bei dem Groß- und Kleinschreibung noch bitte schön in Ehren gehalten werden sollten, und die zumindest eine Art Begrüßungs- und Abschiedsfloskel verdient. Allerdings wirkt ein "Mit freundlichen Grüßen" digital ja immer wahnsinnig oll. Wahrscheinlich sind deswegen kurze Anglizismen so beliebt geworden: Hi, Dear, Best etc. sind halbförmlich, irgendwie websprachlich und besser als nichts.

Eine Anrede bei einem Facebook-Posting ("Liebe FB-Freunde, . . . ) kennzeichnet dagegen den Neuling, noch ungelenker wirkt nur das Einbinden des eigenen Facebook-Namens in den ersten Satz: "Friedel Hilfgott . . . freut sich über das schöne Wetter an diesem Samstag in der Westeifel. :-)" Macht keiner mehr! Und Emojis mit Nasen sind sowieso verboten.

Bei Messenger-Diensten darf längst ansatzlos losgeschwallt werden, ohne sich von Syntax oder Grammatik aufhalten zu lassen. Das ändert nichts daran, dass sich der Empfänger einer hingesudelten Nachricht eventuell unter Wert behandelt fühlt. Aber dann kann er ja ein ärgerliches Emoji als Antwort senden.

Empfängnis

Jetzt neu in der Menschheitsgeschichte: Die Kommunikationswege zerfasern schneller als man Verzeichnisse dazu erstellen kann. Gestern stand man noch bleischwer im Telefonbuch, morgen weiß man nicht mehr, ob man den Freund über Snapchat, Whatsapp, Telegram, XYZ-Messenger oder Twitter-Direktnachricht am besten erreicht. Alle Menschen befinden sich in verschiedenen Versionen und Programmen. Das ist unpraktisch, weil man sich viel mehr Gedanken über den Empfänger machen muss als noch bei Post und Telefon. Man sollte beim engeren Bekanntenkreis schon ungefähr wissen, welche Rauchzeichen die bevorzugten sind.

Die Frage: "Hast du meine Nachricht bekommen?" ist trotzdem allgegenwärtig, und das ist schade. Denn sie drängt den anderen in eine Rechtfertigung. Vielleicht wollte er ja nicht antworten oder hatte noch keine Zeit dazu. Es sollte also zur guten Form gehören, dass man sich erstens des naheliegendsten Nachrichtensystems bedient. Zweitens sind lehrerhafte Nachfragen zu vermeiden; wer sich akut unsicher über den Verbleib seiner Worte ist, sendet die Nachricht eben noch mal. Wer zweimal dieselbe Post bekommt, wird die Dringlichkeit einer Antwort erahnen. Drittens sind Nachrichten, die wirklich ankommen sollen, vielleicht mal wieder mit Post und Telefon zu überbringen. Vorausgesetzt, die Briefträger streiken nicht.

Geburtstag

Ohne Zweifel ist es bequem, die ganze Geburtstagslogistik an Facebook auszulagern. Sich morgens erst daran erinnern zu lassen, mittags als 43. Freund in der Reihe auf der Seite ein unfrisches "Jo, alles Gute auch von mir!" abzusondern und abends nachzusehen, ob sich der Jubilar in irgendeiner Form ( entweder Massendank oder jeweils einzelnes "Gefällt mir") reagiert hat. So sehen Geburtstagsfeierlichkeiten heute aus.

Zulässig ist das aber eigentlich nur für Facebook-Freunde, also Menschen, die ausschließlich dort existieren oder die man nur noch dort sieht. Hat man überhaupt keine Beziehung zu den Geburtstagskindern, kennt aus dem Stegreif weder Wohnort noch den Grund fürs Befreundetsein, kann man übrigens auch einfach nicht gratulieren. War früher ja auch möglich.

Für alle anderen Geburtstagsgrüße gilt: Man überlegt, auf welche Art man mit dem Jubilar am häufigsten kommuniziert - und wählt zum Gratulieren die nächstpersönlichere. Soll ja schließlich eine nette Geste sein. Also: Wem man sonst E-Mails schreibt, schreibt man eine SMS, mit wem man sonst nur SMS oder Whatsapp macht, den ruft man mal an, und wenn man sonst schon viel telefoniert, versucht man persönlich vorbeizugehen. Und denjenigen, den man eh jeden Tag sieht, dem gibt man die Hand. Oder einen Kuss. Ganz einfach.

Wie du mir . . .

Soziale Netzwerke sind polylaterale Systeme. So richtig Fahrt nimmt das ganze nur auf, wenn man folgt und verfolgt wird. Eine kleine Grundsatzfrage drängt sich dabei auf: Wäre es nicht höflich, jedem, der einem folgt, auch zu folgen? Früher hat man gelernt, dass es sich schickt, wenn man kleine, allgemeine Komplimente (nichts Anderes ist das Folgen) auch erwidert.

Für Twitter, Pinterest, Instagram und ähnliche Netze, in denen man sich seinen Feed nach Inhalt kuratiert, ist das aber nicht übertragbar. Man sollte sich hier nicht genötigt fühlen, jede Gefolgschaft zu erwidern, schließlich sucht man nach Qualität und nicht nach Quantität.

Anders sieht es mit den kleinen Bezeugungen der Sympathie aus. Wer niemals zurückliked oder -herzt, wer als Etsy-Händler oder AirBnB-Gastgeber zwar Fünf Sterne sammelt, aber selbst keine Favoriten kennt und nie anderen applaudiert, der wirkt digital schroff und unleidlich. Früher wäre das ein Mensch gewesen, der im Treppenhaus nicht grüßt. Noch schwieriger ist die Gegenseitigkeit unter Freunden. Wer das Foto der besten Freundin nach Friseurbesuch nicht umgehend daumenhocht, darf sich durchaus auf analoge Repressalien einstellen.

#Hashtags

Hashtags sind wie Kescher, man fängt mit ihnen breitflächig Aufmerksamkeit. Wer das Spiel damit beherrscht, kann seinen Inhalten Strahlkraft verleihen und tief ins Hauptprogramm funken. Gierig wirken Hashtag-Überdosen, wie sie auf Instagram, aber auch bei Twitter und Pinterest gängig sind. Die kleine Botschaft des Postings wird durch einen Rattenschwanz an Überbegriffen lächerlich gemacht. Man postet eine Tasse Kaffee (sollte man eh nicht mehr!) und dahinter: #coffee #love #enjoy #food #drink #afternoon #favouriteplace #berlin #delicious. Würde man in einen Laden gehen, der zehn absurde Werbeschilder an der Tür hat, inklusive "Busse willkommen"?

Abgesehen davon, dass mehr als zwei Hashtags hässlich sind, sollte man sich zumindest den Anschein geben, dass man Inhalte auch um der Inhalte willen postet, und nicht nur, um Herzen und Daumenhoch zu sammeln. Auch wenn es natürlich eigentlich doch nur darum geht.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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