Dem Geheimnis auf der Spur:Kein Ende mit Edwin Drood

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Der berühmte Schriftsteller Charles Dickens konnte seinen letzten Roman nicht vollenden. Wie der Schluss des Werkes hätte aussehen können, darüber gibt es viele Spekulationen.

Von Hans Holzhaider

Edwin Drood ist verschwunden. Einiges spricht dafür, dass er tot ist. Hier ein paar Spekulationen: Hat nicht der Hilfskanonikus Septimus Crisparkle die goldene Uhr mit den Initialen E. D. gefunden, die sich im Wehr des kleinen Flusses verfangen hatte, und dann auch noch, als er heldenhaft ins eiskalte Wasser tauchte, die Krawattennadel, die Droods Onkel John Jasper zweifelsfrei als die seines Neffen identifizierte? Ist es nicht hochverdächtig, dass Neville Landless, jener heißblütige junge Mann mit Migrationshintergrund, der erst vor wenigen Tagen eine heftige Auseinandersetzung mit Drood hatte, sich just am Morgen nach Droods Verschwinden aus dem Staub machte, angeblich, um sein hitziges Gemüt auf einer langen Wanderung wieder ins Gleichgewicht zu bringen?

Solche detektivischen Überlegungen lassen sich zu keinem schlüssigen Ende bringen. Denn als Charles Dickens, Englands berühmtester Romancier, am 9. Juni 1870 in seinem Landsitz Gad's Hill die letzten Zeilen des 23. Kapitels des Romans, an dem er arbeitete, fast unleserlich hingekritzelt hatte, erfasste ihn ein plötzliches Unwohlsein. Wenige Stunden später war der Schöpfer so großartiger Romanfiguren wie Oliver Twist und David Copperfield tot. "Das Geheimnis des Edwin Drood" - so der Titel seines letzten, aber unvollendeten Romans - nahm er mit ins Grab.

Doch hat das die Dickens-Fans herausgefordert, unentwegt nach Lösungen für den Romanschluss zu suchen. Wer den Inhalt eines Dickens-Romans erzählen will, gerät immer in ein überreiches, ja, verwirrendes Figurentableau: Wir schreiben das Jahr 1870, und befinden uns im geschichtsträchtigen Städtchen Cloisterham in der englischen Grafschaft Kent. Edwin Drood, gerade 20 Jahre alt, besucht dort seinen geliebten Onkel John, den Kantor. Eigentlich soll Edwin die reizende, aber ziemlich schnippische Rosa heiraten, ein Waisenkind wie er selbst, die in der Anstalt für junge Damen der seriösen Miss Twinkleton lebt. Ihrer beider Väter hatten zu Lebzeiten einst die Kinder einander versprochen, aber Edwin und Rosa werden nun gewahr, dass sie nur freundschaftliche Gefühle füreinander hegen, sie beschließen einvernehmlich, die Verlobung zu lösen.

Kurz vor dieser entscheidenden Aussprache kommen die Zwillingsgeschwister Helena und Neville Landless nach Cloisterham, sie sind ebenfalls Waisen. Sie stammen aus Ceylon. Neville soll im Haus des Hilfskanonikus Crisparkle unterkommen, Helena im Internat von Miss Twinkleton, wo sie sich sogleich innig mit Rosa anfreundet. Auch Neville ist hingerissen von der hübschen Rosa. Weil er das Verhalten Edwins gegenüber Rosa aber als herablassend und besitzergreifend empfindet, bricht er einen Streit vom Zaun, der fast in eine Schlägerei mündet.

Der Hilfskanonikus Crisparkle, der rasch eine Zuneigung zu seinem leicht erregbaren Schützling Neville gefasst hat, arrangiert ein Versöhnungsdinner, das damit endet, dass die beiden Kontrahenten gegen Mitternacht in scheinbar gutem Einvernehmen gemeinsam aufbrechen, um am Fluss ein aufziehendes Gewitter zu beobachten. Aber am nächsten Morgen ist Edwin eben verschwunden, und Neville zu seiner Exkursion aufgebrochen. Man wird seiner schnell habhaft, aber weil es keinerlei Beweis dafür gibt, dass Edwin Drood wirklich tot ist, muss man Neville wieder auf freien Fuß setzen.

John Jasper freilich, Edwins angeblich liebender Onkel, zeigt sich nun von einer finsteren Seite. Die kapriziöse Rosa ist nämlich seine Klavierschülerin, dabei hatte sie John Jasper schon immer mit unerklärlicher Furcht, ja Abscheu betrachtet. Jetzt offenbart Jasper dem Mädchen seine leidenschaftliche, an Wahnsinn grenzende Liebe. Rosa flieht entsetzt zu ihrem Vormund, dem wackeren Londoner Rechtsanwalt Hiram Grewgious.

Nun erinnert man sich mancher Indizien für Jaspers vermeintlich dunkle Absichten: Treibt er sich nicht in London in einer finsteren Opiumhöhle herum? Tauchte nicht eines Tages die alte Opiummischerin in Cloisterham auf und warnte Edwin Drood vor drohender Gefahr? Zeigte sich Jasper nicht verdächtig interessiert an einer mit ungelöschtem Kalk gefüllten Grube? Wäre es also nicht denkbar, dass der in Liebe zu Rosa entbrannte Jasper seinen Neffen als Nebenbuhler ausschalten und die Leiche im ätzenden Kalk verschwinden lassen wollte? Fragen über Fragen.

Generationen von "Dickensians" jeglicher Provenienz haben in dieser und ähnlicher Weise über das fehlende Ende des Romans gegrübelt, spekuliert, jede Silbe des "MED" (Mystery of Edwin Drood) hin- und hergewälzt. Die meisten halten Jasper für den Schurken. Andere sagen: Es wäre eines Dickens unwürdig, so eindeutige Spuren zu legen und dann nicht mit einer echten Überraschung aufzuwarten. Oder war Jasper vielleicht ein Fall von gespaltener Persönlichkeit, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Oder könnten nicht doch die geheimnisvollen ceylonesischen Zwillinge Helena und Neville Landless etwas mit Droods Verschwinden zu tun haben?

1964 überraschte der englische Schauspieler Felix Aylmer mit einer neuen, sorgfältig ausgetüftelten Variante: Edwins Vater, der lange in Ägypten war, hatte den Propheten beleidigt und deshalb die Rache einer Moslem-Bruderschaft heraufbeschworen. Nach dem Tod des Vaters richtete sich deren Hass auf den Sohn. Oder wollte die Bruderschaft etwa einen kostbaren, von Edwins Vater vererbten Ring zurückerobern, den dieser anno 1813 bei der Plünderung von Mekka geraubt hatte?

Noch eine Empfehlung an alle, die tiefer ins Geheimnis eindringen wollen: "Die Wahrheit über den Fall D." vom italienischen Autorenduo Fruttero & Lucentini.

© SZ vom 04.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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