Dem Geheimnis auf der Spur:Die rettende dritte Strophe

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Wie das "Deutschlandlied" alle Fährnisse von 1841 bis zur Einheit überlebte und zur Nationalhymne geworden ist.

Von Lothar Müller

Machte man unter den heutigen Deutschen eine Umfrage nach den Schlüsselversen ihrer Nationalhymne, so wäre die Antwort der überwältigenden Mehrheit: "Einigkeit und Recht und Freiheit / für das deutsche Vaterland." Dass die Melodie zu diesen Zeilen von Joseph Haydn 1797 als österreichische Kaiserhymne komponiert wurde, die der Marseillaise Paroli bieten sollte, ist in jedem Lexikon nachzulesen. Man weiß es, aber man hört es der Melodie nicht mehr an. Österreichische Kaiser gibt es seit 1918 nicht mehr. Und hat nicht Heinrich August Hoffmann von Fallersleben die Melodie von ihrem monarchischen Ursprung gelöst, als er der Kaiserhymne 1841 ihren Text nahm und ihr sein "Lied der Deutschen" unterlegte? Diente nicht seitdem Haydns Melodie dem Aufbegehren gegen die Kleinstaaterei, gegen die Fürsten und Monarchen, dem Aufbruch in Richtung Nationalversammlung von 1848, jedenfalls in Deutschland?

Um 1890 war es ein Lieblingslied des rabiaten, oft antisemitisch eingefärbten Nationalismus

In seinem Buch "Deutschland, Deutschland über alles" eröffnete Kurt Tucholsky 1929 dem Publikum, "warum das Buch diesen tönenden Titel angenommen hat, jene Zeile aus einem wirklichen schlechten Gedicht, das eine von allen guten Geistern verlassene Republik zu ihrer Nationalhymne erkor, - und leider mit sehr viel Recht". Er hatte das Buch geschrieben, um den Titel zu dementieren: "jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts". Ein sozialdemokratischer Reichspräsident, Friedrich Ebert, hat 1922 das "Lied der Deutschen" am 11. August, dem Nationalfeiertag der Republik, zur Nationalhymne erklärt. Warum war sie für Tucholsky die Hymne seiner Gegner, der Deutschnationalen? Weil das "Lied der Deutschen" nicht im Zuge der bürgerlich-nationalen Bewegung um 1848 und schon gar nicht in Verbindung mit demokratisch-universalistischem Gedankengut populär geworden war, sondern erst nach der Bismarckschen Reichseinigung: im Wilhelminischen Deutschland ab 1890, als eines der Lieblingslieder des rabiaten, oft antisemitisch eingefärbten Nationalismus. Im Ersten Weltkrieg ging es in den Langemarck-Mythos ein. Ebert hatte 1922 die Integration derjenigen im Auge, die sich der Republik verweigerten und das "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" in die Propaganda gegen den Versailler Vertrag einschmolzen. Alle drei Strophen gehörten zur Hymne, aber die erste überstrahlte die weinselig- treudeutsche zweite und das Streben nach Einigkeit und Recht und Freiheit der dritten. Auf der Tonspur der späten Weimarer Republik aber dominierten die Kampflieder, wobei der Rote Frontkämpferbund schon mal zur Melodie des Horst-Wessel-Liedes der Nationalsozialisten marschierte. Als die an die Macht kamen, übernahmen sie - nicht zuletzt aus Rücksicht auf die populäre Melodie - die erste Strophe der Hymne der verhassten Republik und degradierten sie zum Auftakt für das Horst-Wessel-Lied, das so vom Kampflied der SA zur Hymne des Nazi-Staates aufgewertet wurde. Darauf reagierten die Siegermächte, als sie 1945 dem Verbot, "das Horst-Wessel-Lied und andere nationalsozialistische Lieder zu spielen oder zu singen", den Satz folgen ließen: "Dieses Verbot bezieht sich auch auf das Deutschlandlied." Theodor Heuss, erster Präsident der Bundesrepublik, hatte recht, als er gegen die von Kanzler Konrad Adenauer energisch betriebene Wiedereinführung eben des Deutschlandliedes als Nationalhymne zu bedenken gab, "sehr, sehr viele Menschen unseres Volkes" hätten die Melodie Haydns nur als "Vorspann" zum "Marsch-Takt in ein Volksverderben" im Gedächtnis und hinzufügte, "dass der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatengeschichte einer neuen Symbolgebung bedürftig sei". Er hatte recht, aber keine starke Alternative. Die auf seine Anregung von Rudolf Alexander Schröder verfasste "Hymne an Deutschland" war in Text und Melodie zu schwach. Zur Wiederkehr des Deutschlandliedes, die auch Heuss 1952 angesichts der Mehrheitsstimmung akzeptierte, trugen drei Faktoren bei: der politische Wille Adenauers, es als Kontinuitätselement in die symbolische Ausstattung der Bundesrepublik einzufügen, die Popularität der Melodie Haydns - und der Schwerpunktverlagerung von der ersten auf die dritte Strophe. Diese wurde von der Konstellation des Ost-West-Konflikts in der Folgezeit befördert. Formell vollzogen wurde sie erst im Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes 1990. "Einigkeit und Recht und Freiheit", so Helmut Kohl 1991, waren zum "Dreiklang" geworden, dem es gelang, "die erfolgreichste rechtsstaatliche Demokratie unserer Geschichte zu gestalten und den Wunsch nach nationaler Einheit wachzuhalten". Die nationale Einheit, für Adenauer nicht das zentrale Motiv, erlaubte nun den Brückenschlag zurück in die Welt Hoffmanns von Fallerslebens, über die langen Zeiten der Herrschaft der ersten Strophe hinweg.

Wieder gab es einen Gegenvorschlag: Bertolt Brechts "Kinderhymne" zur Hymne für das vereinigte Deutschland zu machen. Aber er blieb chancenlos gegen die endgültige Ablösung der dritten Strophe des "Liedes der Deutschen" von der ersten. Als Ausdruck jener Werte, "denen wir uns als Deutsche, als Europäer und als Teil der Völkergemeinschaft verpflichtet fühlen", erklärte Richard von Weizsäcker im August 1991 allein die dritte Strophe zur "Nationalhymne für das deutsche Volk". Damit war eine Kontinuität gewahrt, die angesichts der Brüche der deutschen Geschichte nur durch die selektive, diskontinuierliche Inanspruchnahme von Hoffmanns Text möglich war - und durch die Melodie Joseph Haydns.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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