Blütenkunde:Es liegt was in der Luft

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Der Frühling riecht gut. Aber was duftet da und warum? Viele Fragen dazu sind ungeklärt, sicher ist nur: Die menschliche Nase ist nicht gemeint.

Von Paul-Philipp Hanske

Dieser Tage treiben sie sich vermehrt in den Parks herum: die Schnupperer. Gebannt bleiben sie vor einem Büschel oder einer Blüte stehen, bücken oder strecken sich und dann, etwas verlegen: riechen sie. Ein leiser, gezierter Vorgang, der auf den Beobachter hoffnungslos romantisch wirkt - aber auch ansteckend. Was gibt es da zu riechen? Wie riecht eigentlich die Natur? Also riskiert man auch mal eine Nase. Ob sie dann dasselbe riecht, kann niemand sagen.

Die Nase hat im Sinnesapparat des Menschen eine besondere Rolle. Für Kant und andere Philosophen war der Geruch der "entbehrlichste" all unserer Sinne - und so scheint es zunächst auch, verglichen mit den beiden Eckpfeilern unserer Orientierung, dem Hören und Sehen. Und doch ist die Olfaktorik vielleicht der Sinn, der uns am engsten mit der Welt verbindet. Geruch gilt als ein "Vitalsinn". Da er ans Atmen gebunden ist, nehmen wir unsere Umwelt immer über die Nase war. Wer an einem Schlachthof vorbeiläuft, mag sich die Nase zuhalten. Der Gestank aber dringt über den Mund ein, man weiß also, dass er da ist. Für gute Gerüche gilt das natürlich auch, was derzeit überall zu erleben ist: Die Duftwolke eines Fliederbusches lässt uns den Frühling mit jeder Faser spüren - auch wenn wir die Pflanze gar nicht sehen.

Man geht davon aus, dass die Blütendüfte sich ursprünglich aus Giftstoffen entwickelten

Wer mit vollen Sinnen riecht und schwärmt, wird vielleicht feststellen, wie dürftig die gängigen Beschreibungen von Pflanzendüften sind. "Süß", "blumig", "honigartig", "seifig", vielleicht noch eine Synästhesie wie "schwül". Viel mehr gibt unsere Sprache und damit auch unser Denken nicht her. Keiner beschreibt den Reiz des Blütenduftes, aber auch das Unvermögen, ihn zu fassen, so gut wie Marcel Proust im ersten Teil seines Romans "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit": "Aber wie lange ich auch vor den Weißdornbüschen verharrte und ihren unsichtbaren und in der Luft stehenden Geruch einatmete, sie spendeten in steter und unermüdlicher, verschwenderischer Fülle ihren immergleichen Zauber, ohne mir jedoch zu gestatten, tiefer in ihn zu dringen, ähnlich wie bestimmte Melodien, die man hundertmal nacheinander spielen kann, ohne doch ihrem Geheimnis irgend näher zu kommen."

Wer mit vollen Sinnen riecht, wird merken, wie dürftig die gängigen Beschreibungen von Pflanzendüften sind. "Süß", "blumig", "honigartig", "seifig". (Foto: Miguel Vallinas Prieto)

Es gibt einen Grund, wieso man sich diesem Phänomen nur so geziert und vorsichtig annähern kann. Blütenduft ist eine hochkomplexe Sprache und vor allem eine, die sich nicht an uns richtet, sondern an die Bestäuber. Aber auch deren Verhältnis zum Blumenduft ist alles andere als gut erforscht. Wer das wenige, was es darüber zu wissen gibt, erfahren will, muss zu Stefan Dötterl, Professor der Pflanzenökologie an der Universität Salzburg. Wie kein Zweiter kennt er sich - Typ Naturwissenschaftler: etwas struppiges Haar, Vollbart, Funktionsjacke - mit den komplizierten Verbindungen von Pflanzen und Insekten aus. "Bis in die Achtzigerjahre dachte man, visuelle Reize, also die bunten Blüten, spielten in der Bestäubung die Hauptrolle. Dann fand man aber heraus, dass Bienen die Farbe einer Blüte oft nur aus etwa 30 Zentimetern wahrnehmen. Düfte hingegen zum Teil über Kilometer hinweg", sagt Dötterl.

Nicht alle Pflanzenblüten duften - das ist vor allem eine Eigenart der Bedecktsamer, die es seit 120 Millionen Jahren gibt. Mit etwa 300 000 Arten dominieren sie das Pflanzenreich. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Etwa die Tatsache, dass die Samenanlagen vom Fruchtknoten geschützt sind. Ein weiterer Vorteil dieser Pflanzen ist ihre Erfindung des Nektars. Andere Pflanzen haben als Lockspeise für die Bestäuber nur die Pollenkörner anzubieten - die braucht die Pflanze aber auch zur Reproduktion. Sobald die Insekten wegen des lockenden Nektars anfliegen, läuft die Bestäubung effektiver. Und hier kommt der berauschende Duft ins Spiel. "Man geht davon aus, dass die Blütendufte sich ursprünglich aus Giftstoffen entwickelten, welche die Blüte vor Fressfeinden schützen sollten. Doch dann hatten die Pflanzen, die von Insekten besucht wurden, einen Fitnessvorteil - und aus den Vergrämungsmitteln entwickelten sich Lockstoffe", erklärt Dötterl.

Wie die Kommunikation mit den Bestäubern genau funktioniert, ist bisher nur in Einzelfällen erforscht, es muss dafür zunächst der Pflanzenduft aufgeschlüsselt werden. Dazu werden Insektenfühler verkabelt, um genau zu verfolgen, worauf die Tiere eigentlich reagieren. Unvermutete Mechanismen zeigen sich, so ahmt etwa eine einheimische Orchidee wie der breitblättrige Stendelwurz den Geruch verletzter Grasblätter nach. Wieso? Weil Raupen normalerweise an Blättern knabbern und der dabei auftretende Geruch Fressfeinde wie Wespen anlockt. Die Orchidee wiederum nutzt die unter falschem Vorwand geköderten Wespen zur Bestäubung. Erst durch solche Studien erfährt man auch, welche Substanzen eigentlich duften, überall in den Städten etwa gerade der süß-frische Fliederaldehyd. Oder, einer der häufigsten einheimischen Düfte, der honigartige 2-Phenylethylalkohol. Oder aber Indol, das in hoher Konzentration nach Kot riecht, in geringen Dosen jedoch süß-blumig.

Auch wenn Blütenduft ein Geheimnis bleibt, so können wir damit doch viel anfangen

Professor Dötterl hat aber auch erfahren müssen, dass die menschliche Nase eigentlich nicht dafür gemacht ist, diese Sprache zu verstehen: "Wenn wir Blütendüfte im Gaschromatografen zerlegen, halte ich manchmal meine Nase an die Trennsäule und schnuppere die einzelnen Bestandteile. Und sehr oft liege ich mit meinen Vermutungen, was eigentlich duftet, falsch." Doch auch dem Wissenschaftler merkt man an, dass er vom Duft noch auf sehr emotionale Weise angesprochen wird. Beim Spaziergang durch den Botanischen Garten Salzburg bleibt er fast empört stehen und ruft: "Was? Sie wissen nicht, wie die Blüten der Salweide duften? Das ist so wunderbar!" Oder: "Haben Sie noch nie an den Blüten der Mistel gerochen? Die sind winzig und duften nach frisch gepresstem Maracuja-Saft."

Auch wenn der Blütenduft für uns letztendlich ein Geheimnis bleiben muss, so können wir mit diesem Geheimnis eben doch sehr viel anfangen. Oder besser: Es greift tief in uns hinein. Wieder war es Marcel Proust, der den Zusammenhang des Geruchs- und Geschmackssinns mit der menschlichen Erinnerung beschrieb. Das Aroma des Lindenblütentees saugt den Erzähler im ersten Teil der "Suche nach der verlorenen Zeit" direkt in ein Kindheits-Szenario hinein. Für Proust schafft die willentliche Erinnerung nur hohle Trugbilder, weil wir uns dabei nur an das erinnern, was wir für wichtig halten. Die mémoire involontaire aber, die uns etwa durch einen Duft wie ein Blitz trifft, erzeugt Situationen höchster Präsenz. Dass dieser Zustand im Fall von Lindenblüten durch 2-Phenylethylalkohol ausgelöst wird, ist freilich poetisch irrelevant. Aber vielleicht ist deshalb der Frühling mit seinem Duft auch so eine positive Erfahrung für viele Menschen: Der Geruch der Blüten in den Straßen erinnert uns an frühere Jahre und an das, was damals passierte.

Das führt zum nächsten Punkt: In der Regel nehmen wir unsere Mitmenschen nicht vorrangig über den Geruch wahr. Es sei denn, sie stinken. Oder aber es handelt sich um eine geliebte Person, der wir nahekommen. Parfüms erweitern den Radius der Riechbarkeit um einige Meter und werden als Attraktivitätssteigerung verkauft. Das stimmt schon - in jedem Akt des Riechens schwingt leise, aber doch merklich, immer eine geschlechtliche Saite mit. Für Pflanzen sind Blüten Sexualorgane, und auch wir nehmen an dieser Aura teil. Obwohl wir mit ihrem Duft gar nicht gemeint sind.

Und dann gibt es noch eine ganz andere und doch verwandte Dimension, die wir erschnuppern können: das Leben selbst. Blüten haben eine stark ephemere Natur, sind schnell vergänglich. Oft blüht eine Pflanze, etwa die Nachtkerze, nur eine einzige Nacht, dann verwehen die Blütenblätter im Wind. Ähnlich ist es mit den tierischen Bestäubern. Schon im Juli findet man unter Linden massenhaft tote Bienen und Hummeln. Der Duft der spätblühenden Krim- und Silberlinde lockt sie an, doch sie haben ihre Schuldigkeit für den Bestand ihres Volkes getan. Noch einige Stunden dürfen sie Nektar saugen, dann fallen sie tot zu Boden.

Für uns ist die Kurzlebigkeit der Blütenpracht ungeheuere Vergeudung - alle Blumenzüchtungen versuchen deshalb, die Blühphase über das biologisch Notwendige hinaus zu verlängern. Doch was uns als Verschwendung erscheint, ist nur Effizienz der Fortpflanzung. Die Natur erlaubt sich keine Sentimentalität. Die ist uns vorbehalten, wenn wir uns bewusst machen, dass wir im Leben bestenfalls 80 oder 90 Weißdornblüten sinnlich erleben. So ist jedes Schnuppern an einer Frühlingsblüte auch eine Erinnerung an die eigene Lebensuhr.

Das Gute aber ist, dass der Frühling und seine Düfte auch die Macht haben, diesen Gedanken beiseitezuwischen. Man muss nur mal stehen bleiben und riechen.

© SZ vom 14.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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