Zwei Steinwürfe neben dem Stadion:Trügerischer Nachthimmel

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Die Eröffnungsfeier aus einer etwas anderen Perspektive: vom Favela-Hügel von Mangueira - nur zehn Gehminuten von Maracanã entfernt, aber doch in einer anderen Welt.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Am Abend der Eröffnungsfeier trägt China schwarz. China ist 42 alt, Brasilianer, eigentlich heißt er Milton de Oliveira. Den Spitznamen, unter dem ihn hier auf dem Favela-Hügel von Mangueira alle kennen, haben sie ihm wegen seiner kleinen Augen gegeben. Zu seinem besten Freund Wellerton sagen die Leute: Dente, der Zahn.

China und der Zahn sitzen also vor dem Fernseher in der "Bar von Sandra". Jeder hat sich eine Büchse Cola bestellt, gleich beginnt im Maracanã das Spektakel, die größte Show der Welt. Von Sandras Bar dürften es keine zehn Gehminuten hinüber zum Stadion sein, ein Stück die vierspurige Straße entlang und einmal über die Bahngleise. China und der Zahn sind nah dran an dieser Eröffnungsfeier. Und doch so weit weg.

Mindestens 200 Reais seien da drüben für eine Eintrittskarte verlangt worden, behaupten sie. Das ist natürlich herzergreifend untertrieben. Aber auch diese 200 Reais, rund 55 Euro, liegen für sie jenseits aller Möglichkeiten. Das muss bei ihnen auch mal einen ganzen Monat reichen.

Einer der stolzesten Orte von Rio - und einer der gefährlichsten

In Mangueira leben gut 4000 Menschen. Es ist einer der ärmsten und einer der stolzesten Orte von Rio, die berühmte Sambaschule ist der aktuelle Champion des Karnevals. Lange Zeit war es auch einer der gefährlichsten Hügel. Die Müllabfuhr traut sich hier erst seit wenigen Jahren rein, die Polizei auch. Davor hatten nur die Drogenbosse etwas zu sagen. Der Staat hatte sich nie darum gekümmert. Als Rio dann binnen kurzer Zeit das Endspiel der Fußball-WM und die Olympischen Spiele zugesprochen bekam, zogen hier die sogenannten Pazifizierungs-Einheiten ein. Ein gesetzloser Schandfleck in Rufweite zum Maracanã passte nicht so ganz zu den bunten Bewerbungsbroschüren dieser Sportevents. Heute ist Mangueira halbwegs friedlich, angeblich auch deshalb, weil die Befriedungspolizisten mit den Drogenhändlern ein Gentlemen's Agreement geschlossen haben.

Auf dem schwarzen T-Shirt, das China trägt, sticht vor allem das Wappen des TSV 1860 München ins Auge. Es gibt in Mangueira inzwischen ein erfolgreiches Fußball-Sozialprojekt. Neulich waren ein paar Deutsche da und haben Trikots verteilt. Der Sport kann bekanntlich Brücken bauen. Er will bloß nicht immer.

Die Militärpolizei rückt an

Und, was kriegt man hier so mit von der Olympiastimmung? "Heute Morgen sind die Bope hier eingezogen", sagt China. Bope wird im brasilianischen Portugiesisch "Boppi" ausgesprochen. Das klingt nach kleinen Schoßhündchen, es ist aber der Kampfname einer schwer bewaffneten Spezialeinheit der Militärpolizei, die nicht umsonst einen Totenkopf im Wappen trägt. In Mangueira wissen alle, dass die Boppi an diesem Tag nicht gekommen sind, um die Bevölkerung vor dem organisierten Verbrechen zu schützen. Es geht um den Schutz des organisierten Sports vor dieser Bevölkerung. Die U-Bahnstation Maracanã liegt genau zwischen Mangueira und dem Stadion. Zur Seite der Favela ist der Ausgang an diesem Abend gesperrt.

Was die Eröffnungsfeier betrifft, freuen sich China und der Zahn vor allem auf das angekündigte Feuerwerk. Nachdem sie bei Sandra im Fernsehen noch gesehen haben, wie Brasiliens bestaussehende Frührentnerin Giselle Bündchen einmal quer durchs Maracanã gestöckelt ist, wollen sie deshalb zum alten Nirval hochgehen, der wohnt ganz oben am Hügel.

Die Tür bei Nirval steht offen, er jagt gerade eine Ratte auf die Straße. "Hereinspaziert", sagt er. Das Arbeitsleben von Nirval, 68, hat bei der Reis- und Bohnenernte im Nordosten Brasiliens begonnen. Als er irgendwann in den 1960ern nach Rio kam, schuftete er als Maurer und Schweißer. Heute ist er sowas wie der Aushilfskellner vom Maracanã. Sein Haus, besser gesagt, seine unverputzte Backsteinhütte ist wie alles in Mangueira ein Wunderwerk der Stapelkunst. Vom Flachdach aus sieht man die Oberränge des Stadions und eine der Anzeigetafeln. Es hat sich so eingebürgert, dass Nirval den Grill anschmeißt und alle kommen dürfen, wenn gegenüber mal wieder ein Weltereignis ansteht: Der Confed-Cup, das WM-Finale, die olympische Eröffnungsfeier.

Nur im Fernsehen funktioniert die ganze Show

Mangueira wuchs mit dem zur WM 1950 geschaffenen Maracanã. Generationen von schlecht bezahlten Bauarbeitern, die sich in dieser Favela ansiedelten, haben das Stadion errichtet und es in mehreren Schritten von einer offenen Schüssel in eine geschlossene Arena umgebaut. "Früher war es besser", sagt Nirval. "Da sah man von hier oben noch den Rasen." Diesmal hat er einen Fernseher aufs Dach geschleppt, damit seine Grillgäste die ganze Eröffnungsfeier mitbekommen. Als auf dem Bildschirm der brasilianische Flugpionier Santos Dumont dem Stadionrasen entschwebt, suchen China und der Zahn den Nachthimmel über dem Stadion ab. Da ist aber kein Flugzeug. Es dauert einen Augenblick, bis sie festgestellt haben, dass es sich um ein digitales Täuschungsmanöver handelt. Olympia ist fürs Fernsehen gemacht. Nur dort funktioniert die ganze Show.

Von Nirvals Dach sieht man dafür andere Dinge: die Militär-Hubschrauber, die den ganzen Abend wie Schmeißfliegen über den Lichtern des Stadions kreisen, die ganze Herrlichkeit und den ganzen Schmutz dieser Stadt. Weit im Hintergrund des Maracanã leuchtet der Cristo vom Corcovado herab, auf dem gegenüberliegenden Hügel, wo sich die Favela Salguiero befindet, da brennt was. Als die ersten Nationen einmarschieren, könnte man es noch für ein Lagerfeuer halten, irgendwo zwischen Großbritannien und Guyana wird klar, dass zahlreiche Bäume in Flammen stehen. Als die Russen kommen, breitet sich das Feuer gerade in Richtung Maracanã aus. Später in der Nacht wird der Brand gelöscht. Während die Leute im Stadion aber auf die olympische Fackel warten, reden die Leute bei Nirval über einen olympischen Waldbrand.

"In dieser olympischen Welt sind wir alle gleich", sagt im Fernsehen ein gewisser Thomas Bach, von dem hier oben auf der Dachterrasse noch nie einer etwas gehört hat. Bei seiner Begrüßungsrede bekommt der unbekannte Mann vom IOC trotzdem ein paar Lacher ab, an der Stelle nämlich, als er sich Spiele "a la Brasil" wünscht. Man muss keine höhere Schulbildung haben, um zu merken, dass hier grammatikalisch etwas hakt. La Brasil gibt es nicht. Das Land hat im Portugiesischen einen männlichen Artikel. Im Französischen übrigens auch.

Für die brasilianische Delegation, für das Flüchtlingsteam sowie für die Feuerwerkskörper gibt es auf den Dächern von Mangueira Szenenapplaus. Es wäre aber gewiss übertrieben zu sagen, dass sich China, der Zahn oder einer der anderen Gäste brennend für diese Zeremonie interessiert hätten. Als OK-Chef Arthur Nuzman seine, nun ja, Rede herunter stottert, verteilt Nirval gerade frisch gegrillte Hähnchenschlegel. Brasiliens Interimspräsident Michel Temer, den hier keiner leiden kann, taucht so kurz im Fernsehen auf, dass nicht einmal die Zeit reicht, um ihn als Putschisten zu beschimpfen. Temer hat am Freitagabend vermutlich den ersten Weltrekord dieser Spiele aufgestellt: im Eröffnungserklärungs-Sprint.

Irgendwann zwischendurch fragt Nirvals Urenkelin, acht Jahre alt: "Was machst du da?"

Olympia gucken.

Sie schaut eine Weile konzentriert auf den Bildschirm. Dann sagt sie: "Ach, das ist Olympia?"

© SZ vom 07.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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