Zu Besuch im Bergischen Land:Größer als Gummersbach

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Der deutsche Handball befindet sich auf dem Weg in eine neue Zeit. Doch sein Gesicht ist noch dasselbe. Es trägt Schnauzer und gehört Heiner Brand - einst härtester Abwehrspieler der Welt, heute Bundestrainer.

Christian Zaschke

Heiner Brand geht nicht so oft zu Fuß. Wenn er zu Fuß geht, wirkt es manchmal, als zöge er ein Bein nach, aber das ist nicht so. Er hat sich eine Art zu gehen angewöhnt, bei der die Füße sich nicht weit über den Boden heben. Wenn er joggt - und er joggt eher, weil er es als nötig empfindet, nicht, weil er gerne joggt - sieht es aus, als laufe er, ohne dass der Kopf sich hebt oder senkt.

Nur einmal war er ab: Heiner Brand ohne Schnauzer, zusammen mit Daniel Stephan nach dem Gewinn der EM 2004. (Foto: Foto: AP)

Wer je Heiner Brand beim Joggen erblickt, wie er hinter einer Hecke vorbeiläuft, die den Blick nur auf Schultern und Kopf freigibt, der sieht einen Mann, der auf einem Laufband vorbeifährt. Solange, bis die Hecke zu Ende ist, dann sieht man wieder den ganzen Brand und sieht, dass er tatsächlich läuft, jeden Schritt bedächtig setzend. Es ist der Rücken; Brand musste sich bereits operieren lassen, seitdem geht es besser.

An diesem Samstag, es ist der Tag vor Heiligabend, setzt sich Brand in sein Auto, das neben der rechten Hälfte des Doppelhauses in Gummersbach geparkt steht. Er dreht den Zündschlüssel, der Motor springt an, und auf dem Armaturenbrett erscheinen einige Ziffern in Rot. Die Ziffern der Kilometeranzeige stehen auf knapp über 52.000. Brand fährt sein Auto stets nur ein Jahr, dann tauscht er es gegen ein neues ein.

Bald ist auch dieser Wagen dran, der Zähler wir dann die 60.000 erreicht haben. So ist es in jedem Jahr, und vielleicht werden es in diesem Jahr sogar weniger als 60.000 Kilometer sein, denn in zwei Wochen steht die Handball-WM an, und da muss Brand nicht mehr so viel Auto fahren, weil er als Bundestrainer mit der Mannschaft fährt, im Bus. 52.000. Brand hat eine Stimme wie Ivan Rebroff, und mit dieser Stimme brummt er: "Ja, ich bin viel unterwegs."

Jetzt ist er unterwegs in die Eugen-Haas-Halle, es spielt der VfL Gummersbach gegen GWD Minden. Die Halle liegt in zehn Minuten Fußweg Entfernung, und als Brand mit seinem Auto zum Parkplatz für wichtige Gäste kommt, dem Vip-Parkplatz, ruft eine junge Frau an der Absperrung: "Ist schon voll."

Brand lässt das Fenster wieder hochsurren und sagt: "Das ist der einzige Vip-Parkplatz beim Handball in Deutschland, auf den ich nicht immer raufkomme." Er lächelt dabei, nicht mehr bitter, eher wie einer, der zehn Jahre nach der Scheidung sagt: "Ach, das Haus hat sie auch noch auf sich überschreiben lassen." Gummersbach, Brand und der deutsche Handball, das schien so lange eins zu sein.

WM-Ziel: Finale in Köln

Brand dreht dann trotzdem noch eine Runde über den Parkplatz, er ist jetzt 54Jahre alt, er hat 27 Jahre für den VfL gespielt, er hat ihn trainiert, er war sechsmal deutscher Meister als Spieler, dreimal als Trainer, er hat den Europapokalsieger der Landesmeister gewonnen, zweimal - da wird er doch wenigstens eine Runde über den Parkplatz drehen dürfen, um zu sehen, ob "Ist schon voll" wirklich "voll" heißt.

Doch der Parkplatz ist tatsächlich voll, und Brand fährt dann durch einige Gassen, bis er einen Platz findet, an dem er den Wagen parken kann. Dann geht er zur Halle, es ist nicht weit, und es wirkt, als würde er ein Bein nachziehen, aber das ist nicht so.

Gummersbach, Brand und der deutsche Handball - das ist die Geschichte einer Entwicklung, und auch wenn nicht alle immer auf den gleichen Pfaden gewandelt sind, so eint sie nun, im Januar 2007, dasselbe Ziel: Es ist ein Ort namens Köln, genauer: die Kölnarena.

Das ist eine Mehrzweckhalle, Platz für 19000 Zuschauer, in der der VfL Gummersbach mittlerweile seine wichtigen Heimspiele austrägt und in der am 4. Februar das Endspiel der Handball-WM ausgetragen wird. Wenn es Brand gelingt, die deutsche Mannschaft dahin zu führen und zu gewinnen, dann hat sich ein Kreis geschlossen.

Brands Haus in Gummersbach liegt in fußläufiger Entfernung vom Bahnhof, wie alles in Gummersbach in fußläufiger Entfernung zu liegen scheint. Er nutzt den Bahnhof fast nie, weil der Zug nach Köln länger als eine Stunde unterwegs ist, obwohl die Entfernung zwischen Gummersbach und Köln in Kilometern 53 beträgt.

Im Handball wird diese Entfernung stetig kleiner, und es ist die Hoffnung des Klubs und der Sportart, dass die Entfernung zwischen Gummersbach und Köln verschwindet. An diesem Nachmittag vor Heiligabend schaut Brand Fernsehen, bevor er zur Halle fährt, der THW Kiel spielt gegen die SG Flensburg-Handewitt. Es ist das Spitzenspiel, die besten deutschen Mannschaften, aber es sind gerade keine deutschen Spieler auf den Parkett.

Brand brummt: "Flensburg spielt besser, aber Kiel gewinnt." So kommt es. Draußen wird das Licht jetzt fahl, der Himmel ist bewölkt, und im Garten heben sich die Zweige des großen Ahorn-Baums, fast so groß wie das Haus, schwarz gegen die Bewölkung ab. "Im Herbst ist der Baum herrlich", sagt Brand, "dann strahlt er in wunderschönen Farben." Er lächelt dabei, wie einer, der 30 Jahre nach der Hochzeit sagt: "Ich liebe meine Frau heute wie damals."

Bei den Olympischen Spielen 1976 überreichten die Veranstalter aus Montreal jedem Teilnehmer einen Ahorn-Zweig, ein kleines Andenken an Kanada. Brand hat den Zweig von Kanada mit nach Gummersbach genommen, er hat ihn in seinem Garten eingepflanzt, und heute steht da der Baum.

Brand betritt die Eugen-Haas-Halle durch einen Hintereingang, er kann einfach durchgehen, er muss keine Karte vorzeigen, das dann doch nicht. Tribünen gibt es nur an zwei Seiten des Spielfeldes, es passen 2200 Zuschauer darauf. So war Handball früher: eine erweiterte Schulturnhalle in der Provinz, ein paar Zuschauer.

Für die ganz großen Spiele im Europapokal ist der VfL nach Dortmund in die Westfalenhalle gegangen, und wenn die Spieler dort aus den unterirdisch gelegenen Kabinen auf das Parkett kamen, dann sahen sie erst einmal nichts, weil der Rauch nebeldick in der Halle stand. Die Zuschauer durften damals rauchen beim Handball.

Nur einer konnte die Russen stoppen

Das ist das Milieu, aus dem dieser Sport stammt. An einer Wand der Haas-Halle hängen Plastiktransparente von örtlichen Geschäften, unter anderem von einem Autohändler namens Brand, und Heiner Brand sagt: "Der hat nichts mit mir zu tun." Ein seltsames Schicksal für den Autohändler: Immer wenn er sich vorstellt als Brand aus Gummersbach ist er der falsche Brand.

An der Seite des Spielfeldes steht eine Wechselbande, die zu modern für die Halle wirkt, und manchmal steht auf dieser Bande: Kölnarena. Es sieht dann so aus, als sei das der Name der Halle, und das wirkt recht witzig: die Kölnarena eine ausgebaute Schulturnhalle. Es sieht aus wie ein Bild, das sagen will: Wir schreiben zwar Kölnarena drauf, aber das hier ist noch immer der echte Handball; hier ist er zu Hause.

Wenn der VfL ein Tor wirft, tönt aus den Lautsprechern "Viva Colonia". Man kommt in Gummersbach um Köln nicht herum. Köln bedeutet die neue Zeit, den Weg von der Halle in die Arena, den Weg vom Milieu in die Welt der Events. Der VfL hat einen Teil des Wegs zurückgelegt, aber noch ist er nicht angekommen, noch muss er immer wieder mal in der Haas-Halle mit ihren Autohändler-Transparenten spielen. Auch Brand hat einen Teil des Wegs zurückgelegt, und der Weg hat ihn gezeichnet.

In den siebziger Jahren war Brand der beste und auch der härteste Abwehrspieler der Welt. Man sagte: Wenn die Russen kommen, gibt es nur einen Mann, der sie stoppen kann: Heiner Brand. Gemeint waren die Handball-Russen, aber in der Zeit des kalten Kriegs hatte der Satz einen besonderen Klang.

Im Oktober des letzten Jahres stand der Mann, der einst die Russen stoppte, in der Bremer Stadthalle. Die Nationalmannschaft lag beim World Cup, einen Vorbereitungsturnier, zur Halbzeit gegen Dänemark 11:15 zurück, sie war gerade in die Kabine gegangen.

Brand blieb vor der Kabine stehen. Er beugte sich langsam vornüber, er stützte die Hände auf die Knie, und dann verharrte er in dieser Stellung, 15 Sekunden lang, 20 Sekunden lang. Er atmete tief, er hatte Schmerzen. Er versuchte, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem er eine Kabinenansprache würde halten können. Ganz langsam richtete er sich wieder auf, und als er dann auf die Kabinentür zuging, wirkte es, als zöge er ein Bein nach.

In diesem Moment waren Brand die Entbehrungen anzusehen, die das Leben mit dem Handball bedeuten kann. Zu diesen Entbehrungen gehört auch, dass er sich von seinem Heimatklub entfremdet hat. Bevor er vor zehn Jahren Bundestrainer wurde, trainierte er den VfL. Sein Wechsel auf den Bundesposten wurde früh bekannt, dann verlor der VfL zwei Spiele, und manche im Klub sagten, Brand gebe nicht mehr alles, er sei wohl im Kopf schon beim neuen Job. 1959 ist Brand dem VfL Gummersbach beigetreten. Dann das, nach 37 Jahren. Er war tief gekränkt. Die Beziehung erkaltete.

Meine Dusche, seine Dusche

Die Entbehrungen lassen sich auch am Tachometer des Autos ablesen. 60.000 im Jahr, das sind 5000 im Monat, knapp 170 jeden Tag. In diesem Jahr hat der Handball-Bund einen begehbaren Handball auf eine so genannte Roadshow geschickt, und mit dem Ball erschien stets der Bundestrainer. Der Ball sah ein bisschen lächerlich aus, doch Brand war immer da und beantwortete die immer gleichen Fragen, stoisch. "Es ging an die Grenzen der Belastbarkeit", sagt er.

Zwischendurch kehrte er immer wieder nach Gummersbach zurück. Hierhin ist er immer zurückgekehrt, hier wurde er geboren, und hier ist er nie weggezogen. Mit den Gummersbacher Mitspielern Erhard Wunderlich und Joachim Deckarm ist er 1978 Weltmeister geworden, es war außerhalb des Fußballs der größte Titel einer deutschen Mannschaft (neben dem Olympiasieg der DDR-Handballer 1980). Man könnte einerseits sagen, er ist der Mann, die nie aus Gummersbach rausgekommen ist, aber andererseits ist da der Tacho des Autos, der sagt, er ist der Mann, der so selten in Gummersbach ist.

Als Spieler war Brand Gummersbach. Als Bundestrainer ist er größer geworden als Gummersbach, er ist das Gesicht des deutschen Handballs, des Handballs von damals und des Handballs von heute. Es liegt nahe, ihn mit Franz Beckenbauer und dessen Bedeutung für den Fußball zu vergleichen, aber Brand ist anders.

Er erzählt eine Geschichte, während er zusieht, wie der VfL gegen Minden gewinnt: "Wir hatten hier drei Duschen in der Halle. Und eine von denen war meine Dusche. Als der Andreas Thiel neu zu uns kam, hat er sich unter meine Dusche gestellt. Der hat dann schnell kapiert, dass das meine Dusche war." So war Brand. Und so war Handball.

Jetzt versucht der Handball den Weg in eine neue Zeit, und Brand ist nicht einfach noch immer dabei, er ist als Bundestrainer die Spitze der Bewegung. Brand sagt: "Nachdem ich mit dem aktiven Handball aufgehört habe, ist es damals die Dusche vom Thiel geworden." In der Kölnarena sind genug Duschen für alle da. )

© SZ vom 5.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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