WM-Rückblick:Im Rhythmus der Bongo

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Was dieses Land bewegt: Schnee und Ski-Sport. (Foto: Jonathan Nackstrand/AFP)

Die U-Bahn T-Bane 1 fährt die Besucher in Oslo zum legendären Holmenkollen. Gesammelte Eindrücke der WM-Tage - erzählt entlang der acht Bahn-Stationen.

Von Volker Kreisl

Natürlich fährt die berühmteste Wintersport-U-Bahn in Oslo. Es ist die T-Bane 1 zwischen Ellingsrudarsen und Frognerseteren. Sie muss wie die S-Bahn in München unter dem Zentrum der Großstadt durch eine Stammstrecke, durchquert dann Vororte und schlängelt sich hinauf über den Holmenkollen. Bei der Biathlon-Weltmeisterschaft oben am heiligen Berg des Wintersports waren in den vergangenen zwei Wochen die Fahrten mit der Einser die Nebenattraktion. Denn die T-Bane 1 transportiert zusammen mit den Pendlern auch die Wintersportler und die WM-Gäste. Und sie sammelt - beim täglichen Blick aus dem Fenster - auch die Gedanken an eine außergewöhnliche WM.

Erste Station: Jernbanetorget - Latten und Bretter

Schon auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofs drängeln sich zusammen mit Aktenkoffer- und Laptopträgern hagere, braungebrannte Norweger mit spitzen Langlauflatten. Im Laufe der Fahrt werden sich Skisportler beider Geschlechter und aller Altersklassen hineindrücken. Man sieht lange und kurze Ski, sehr dünne und sehr breite Ski, Latten und Bretter, und man bekommt schon zu Beginn der WM einen Eindruck von dem, was dieses Land bewegt: Schnee.

Stortinget - Wehmut

Unweit des Stadtzentrums befindet sich Norwegens Parlamentsgebäude. Dort wurde vor eineinhalb Jahren mit den Stimmen der konservativen Partei eine Olympiabewerbung verhindert. Grund waren unkalkulierbare Kosten. Doch entsprach dieses Votum nicht nur norwegischer Vorsicht, sondern zu großen Teilen auch dem Ärger über die Gier im Internationalen Olympischen Komitee. Eine Zeitung hatte die Liste mit den persönlichen Luxus-Forderungen der IOC-Granden veröffentlicht. Die Berichterstatter dieser Biathlon-WM jedenfalls verfolgten in den zwölf Tagen die Wehmut: kein Olympia in Oslo, eine verpasste Chance.

Nationaltheatret - echt und unecht

Nicht weit entfernt vom Nationaltheater liegt der Schlossplatz, hier fanden die Siegerehrungen statt. Gekommen sind jeweils zehntausende Zuschauer, in der Spitze 25 000. Vor allem waren dies, anders als die Kulissenauffüller anderswo, 25 000 echte Sportanhänger, genauso wie die insgesamt 125 000, die zum Stadion am Holmenkollen hinauf pilgerten. Sie waren so echt wie die Ski in der U-Bahn und wie der Naturschnee, dessen Massen sich der Winterreisende besser noch einmal gut anschaute und bewusst um die Nase wehen ließ. Außerhalb Norwegens gibt es nicht mehr viel davon, bei den Spielen in Sotschi versanken die Langläufer schon im Kunstschneesulz, in Pyeonchang droht wegen wärmerer Winter dasselbe, die Spiele in Peking 2022 sind wohl von vornherein auf Kunstschnee gebaut.

Slemdal - Verlierer und Überraschungen

Weiter geht es Richtung Frognerseteren (sprich: Fronjsetteren), die Bahnsteige werden kürzer und die Automatenstimme warnt in einem unendlich langen norwegischen Satz irgendetwas. Auf Englisch klingt es ganz einfach: "Mind The Gap!" Man überlegt, schon etwas dösig von der Fahrt, dass es seltsam ist, dass die einzige im deutschen Team, die das alles versteht, weil sie perfekt Norwegisch spricht, nie zu sehen und zu hören war: Miriam Gössner. Die Garmischerin ist eine der Verliererinnen dieser WM im Heimatland ihrer Mutter. Sie hat dann doch wieder zu unsicher geschossen in den Wochen nach ihrem fulminanten zweiten Platz beim Sprint von Hochfilzen. Sie war also nur Ersatzläuferin, trainierte am Holmenkollen und bot sich als Skitesterin für die Kolleginnen an. Wenn Gössner die Verlierin war, dann waren vier kanadische Männer am Ende vielleicht die Gewinner - sicherlich die überraschendsten. Christian Gow, Nathan Smith, Scott Gow und Brendan Green gewannen am Samstag Staffel-Bronze. Damit hatte niemand gerechnet.

Gaustad - Riesige Tränen

Plötzliches Krakeelen beendet das Dösen. In den Waggon hineingehoben wird eine Dreijährige, noch rosig statt braun, aber dick eingepackt, sie weint riesige Tränen. In Empfang genommen wird sie von der sportlichen jungen Frau, die die ganze Zeit gegenübersaß. Sie gibt ihr sofort einen großen Norwegerkeks in die Hand. Die Türen schließen, ihre Eltern winken besorgt von draußen, die Rosige schreit herzerschütternd, dann fährt die Bahn, die Eltern sind weg und das Kind beschäftigt sich zufrieden mit seinem Keks. Nach und nach wird klar, warum sich schon zuvor so viele Kinder in der Holmenkollen-Line versammelt haben: Dies ist ein Schneekindergarten. Womöglich ist ja genau die Kleine mit dem Keks die Marit Björgen von morgen.

Grakammen - Nur Pulli und Mütze

Björgen, wohnhaft am Holmenkollen, war zwischendurch zu Gast bei den Biathlonspielen. Die beste Langläuferin von allen, die es jemals gab, saß bei einer Pressekonferenz ganz links, und als danach die Runde für Eins-zu-Eins-Fragen eröffnet wurde, stürzten alle Biathlon-Reporter links rüber, die Biathleten saßen recht alleine da. Trotz der späteren Wucht dieser WM blieb klar, dass Norwegen mehr ein Langlauf- als ein Biathlon-Land ist. Und es ist auch mehr als ein Langlaufland: ein großartiges Skisprungland zum Beispiel, und, wie man auf den Vorort-Eisflächen sieht, auch ein Hockeyland. Auf diesen Eisflächen spielen Jungs Eishockey, sie tragen keine dicken Polster und Helme, nur Jeans, Pullover und Mütze. Ziemlich lässig.

Mistuen - Marseillaisen

Die Kurven werden enger, das Tempo ist sehr langsam, umso besser kann man jetzt über die Stadt blicken. Im Dunst liegen Kirchen, Hafenkräne und das Schloss. Im Laufe der WM wurden bei den Siegerehrungen ja viele Goldmedaillen vergeben, in erster Linie aber nur eine Hymne gespielt: die Marseillaise. Das lag an Martin Fourcade, dem Franzosen, der bis zum Schlusswochenende alles gewonnen hat, und alle anderen in den Schatten stellte. Ein bisschen sogar die Norwegerinnen, die zweimal Gold errangen, die Garmischerin Laura Dahlmeier, der auch einmal die Hymne gespielt wurde, und sogar seine Landsfrau Marie Dorin Habert - dabei galten ihr auch zwei Marseillaisen.

Holmenkollen - In der Trommel

An Wettkampftagen empfiehlt es sich nicht, mit der U-Bahn zu fahren. Aus dem Presse-Bus schauen sich die Reporter die sagenhafte Schlange auf dem Gehsteig lieber von oben an. Schlange ist wahrhaftig der richtige Ausdruck: Mehrere Tausend stauen sich vom Stadioneingang über die Serpentinen bis hinunter zum Bahnsteig. Die Mehrheit hält die norwegische Flagge in der Hand, hat sie an Hüte gesteckt, lässt sie aus Rucksäcken ragen. Man fährt an ihnen vorbei, hinauf ins Pressezentrum, das eine der eigenwilligsten Pressezentrums-Architekturen der Welt darstellt: Die Presse sitzt nämlich direkt unter der Loipe. An einer Wand, hinter der die Zuschauer vorbeigehen, sind nur kleine Bullaugen im Beton, etwa in der Größe einer Bongo-Trommel. Manche lustige Norweger, trunken vom Siegen und vom Trinken, kommen auf dem Heimweg vorbei und können der Versuchung nicht widerstehen. Sie trommeln mit Wucht einen Rhythmus auf die Scheibe und ahnen wahrscheinlich selber nicht, welch großartiger Resonanzraum ein Pressezentrum sein kann. Als Erinnerung an diese WM wird der Rhythmus noch lange in den Ohren hallen.

© SZ vom 13.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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