WM-Erweiterung:"Da muss man sich anpassen"

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Farbenfroh - und halbwegs überschaubar: die Eröffnungsfeier der WM 2006, an der 32 Teams teilnahmen. (Foto: Olivier Matthys/dpa)

Empörung in Spanien, Vorfreude in Schottland - und Messi-Träume auf St. Vincent und den Grenadinen. Die Reaktionen auf die neue Mammut-WM hängen weltweit extrem davon ab, wer hoffen darf - und wer fürchten muss.

Eine Fußball-WM mit 48 Mannschaften? Die Kritik aus Deutschland war besonders harsch, als das Council des Fußballweltverbands Fifa am Dienstag einstimmig den Vorschlag des Präsidenten Gianni Infantino abgenickt hatte, das wichtigste Sportereignis des Planeten ab 2026 von bisher 32 Teams um 16 weitere aufzustocken. Die Sorge um eine "Verwässerung" der sportlichen Qualität (Nationalelf-Manager Oliver Bierhoff) steht dabei ebenso im Fokus wie die Befürchtung, dass von einem Turnier mit dann 80 WM-Spielen gewiss mehr Verletzte in Europas Topligen zurückkehren werden als bisher aus 64 WM-Spielen (selbst wenn auf dem Weg zum Titel wie bisher maximal sieben Partien zu absolvieren sein werden).

International ist die Resonanz erwartungsgemäß vielschichtiger. Während Spaniens Liga-Chef gar mit Klage gegen die Fifa droht, freuen sich Vertreter kleinerer Nationen. Vor allem sie hatte Infantino bei seiner Wahl im vergangenen Februar mit dem WM-Versprechen umgarnt. Für vergleichsweise wenig Unmut sorgt bisher, dass wichtige Fragen zum neuen Modus vertagt wurden: Werden etwa, weil bei 16 Dreiergruppen am letzten Spieltag die Gefahr von Absprachen evident ist, die Unentschieden abgeschafft - und stattdessen nach 90 Minuten die Sieger durch Elfmeterschießen ermittelt? Selbst dieser schräge Vorschlag wird von Infantino ernsthaft erwogen. Bisher kommen aber eher die positiven Botschaften des Fifa-Chefs an: Es werden mehr Länder bei dem Turnier dabei sein! Mehr Vielfalt, mehr Fans! Und: Es gibt mehr zu verdienen! Ein Rundgang durch eine gespaltene Fußball-Welt.

Italien

Die Zahl 48 hat in Italien eine besondere Bedeutung. Im neapolitanischen Traum- Lotto steht sie für den "sprechenden Toten". Wenn im Traum ein Toter zu einem spricht, dann sollte man im Wachzustand auf die 48 setzen. Das Bild passt ganz gut, weil die Fifa ja von Kritikern auch für eine Organisation von Zockern gehalten wird, die mit schmeichelhaften Worten den Kadaver des schönen und moralisch sauberen Fußballs feilbieten. In Italien sieht man das mit der aufgeblähten WM indes pragmatischer. "Wenn ich Nationaltrainer wäre, fände ich das gut", sagt Massimo Allegri, der zurzeit noch Trainer von Juventus Turin ist - dem Klub, der die meisten Spieler der Squadra Azzurra stellt. "Der Fußball hat sich globalisiert", sinniert Allegri, "China und Russland mischen mit, es ist Big Business und große Show, da muss man sich halt anpassen." So nüchtern und abgeklärt kann man es natürlich auch betrachten, zumal ja eine eingefleischte Juve-Frau im Fifa-Rat sitzt. Evelina Christillin, Mitglied im Aufsichtsrat des Rekordmeisters, vertritt dort Italien. "Die Fifa zählt 211 Verbände, da musste man das Turnier ausweiten", sagt Christillin: "Diesen Trend gibt es doch schon länger."

Haarsträubend, schnaubt hingegen Torwartlegende Dino Zoff, der auch schon mal Nationaltrainer war und als einziger italienischer Spieler EM und WM gewonnen hat: "Ich bin auf der Seite der Deutschen. Hier geht es nur noch um Geld und Gewinn, aber die Qualität und die Traditionen des Spiels leiden darunter. 32 Teilnehmer würden wirklich reichen. Man sieht doch an der Europa League, wozu diese Verwässerung führt. Zu viele Spiele, zu leere Stadien. In Italien geht sowieso keiner hin." Ein anderer Italiener, Gianni De Biasi, freut sich wiederum über "mehr Chancen für die Kleinen", die bei der EM 2016 bereits gezeigt hätten, was in ihnen steckt: "Island und Wales konnten durchaus mit den Großen mithalten." De Biasi spricht im eigenen Interesse - er ist Nationaltrainer von Albanien.

Birgit Schönau

Spanien

Der lauteste Unmut kommt aus Spanien, und das erstaunt zumindest die Spanier selber nicht. Javier Tebas, der ständig polemisch aufgelegte und politisch umstrittene Präsident des spanischen Ligaverbands, sagte nach dem Entscheid der Fifa: "Infantino führt sich auf wie Blatter." Wenn man frühere Statements von Tebas heranzieht, muss man annehmen, dass der Vergleich als höchstmögliche Verunglimpfung gemeint ist. Zu Blatters Zeiten sagte der 54-jährige Anwalt aus Huesca einst, mit der Fifa könne er sich in keiner Weise identifizieren: "Da sind sie alle korrupt." Man erwäge, sagte Tebas nun, den Beschluss des Weltverbands, der ohne Rücksprache mit den Vereinen zustande gekommen sei, juristisch anzufechten. Als mögliche Berufungsinstanzen nannte er die Wettbewerbskommission der EU oder die schweizerische Justiz. "Die großen Ligen in Europa hätten angehört werden müssen", so sein Argument, "weil 75 Prozent aller Spieler, die an Weltmeisterschaften auftreten, in den großen europäischen Ligen spielen." Die Industrie des Fußballs werde nun mal von den Vereinen und Ligen betrieben, nicht von der Fifa.

Ob er tatsächlich Ernst macht mit seiner Drohung, ist nicht so klar. Javier Tebas hört sich gerne reden - und gerne deftig. Mal verglich er Lionel Messi mit einem Stierkämpfer, was nicht nur unter Tierschützern für Empörung sorgte; mal drohte er dem FC Barcelona mit einem Ausschluss aus der Liga, sollte Katalonien in die Unabhängigkeit drängen; mal wünschte er, Spanien hätte auch eine Rechtspolitikerin wie die Französin Marine Le Pen, die Patriotismus und Nationalismus noch hochhalte. Solche Dinge. Als man Gianni Infantino auf Tebas' angedrohte Klage ansprach, sagte der Fifa-Chef unerhört gelassen und mit ironischer Spitze: "Viel Glück damit!"

Oliver Meiler

Großbritannien

Elfmeterschießen ab 2026 schon in der WM-Gruppenphase? "The horror! The horror!", ächzt der Daily Telegraph mit einer feinen Prise Selbstironie. Die Aussicht auf noch mehr traumatische Penalty-Blamagen sorgt auf der Insel erwartungsgemäß für einiges Unbehagen; man müsse sicherstellen, dass englische Spieler künftig die "mentale Widerstandskraft" hätten, um nicht in den Shoot-outs zu versagen, mahnt Martin Glenn, Geschäftsführer der Football Association. England wollte sich nicht Arroganz gegenüber kleineren Fußball-Nationen nachsagen lassen; man mochte sich deshalb in Zürich nicht entschieden gegen die Aufblähung auf 48 Teams positionieren: "Wir sind nur eine von 211 Stimmen. Wir können nicht sagen: Wir haben den Fußball erfunden und nehmen den Ball mit nach Hause, wenn uns etwas nicht passt." Nichtsdestotrotz hätte man "aus Qualitätsgründen" ein kleineres Teilnehmerfeld bevorzugt. In den Zeitungen wird auf derart diplomatische Verpackung verzichtet, einhellig erklingt der Frust der Traditionalisten über die politisch-finanziell bedingte Verwässerung der Endrunde. "Tahiti versus Curaçao" sei vielleicht "ein Urlaubsdilemma für Windsurfer, aber keine Ansetzung, die sich nach einem sportlichen Elite-Wettbewerb anhört", höhnt die Daily Mail in Bezug auf ein mögliches Playoff-Spiel zwischen den beiden Exoten. Fifa-Chef Gianni Infantino gehe es "nur um Stimmen für eine Wiederwahl und ums Geld", klagt der Independent, die Ausweitung führe das Turnier direkt "an den Abgrund der Beliebigkeit und Irrelevanz".

Bei den britischen Nachbarverbänden sieht man das jedoch anders. Schottlands FA-Chef Stewart Regan fand die Änderung "positiv für die kleineren Nationen", in Nordirland freute man sich ebenfalls über die gestiegenen Chancen auf die Teilnahme. Seit 1998 hat ja nur England Großbritannien bei Weltmeisterschaften vertreten - und dabei, "let's be honest", auch nicht so arg viel zur sportlichen Gesamtqualität beigetragen.

Raphael HOnigstein

Südamerika

Einer der unterhaltsamsten Fußballwettbewerbe der Welt ist das Turnier der südamerikanischen WM-Qualifikation, die "Eliminatorias". Zehn Mannschaften mit insgesamt neun Weltmeister-Titeln streiten um viereinhalb Startplätze, und fast jeder kann jeden schlagen. Auch die Andenrepubliken Ecuador und Bolivien sind unberechenbar, weil sie ihre Heimspiele auf höchstem Niveau austragen. Lediglich die Dauerverlierer Peru und Venezuela sind zu bemitleiden, sie haben das Pech, dass ihre Hauptstädte nicht auf dem Berg liegen. An jedem der 18 Spieltage aber gibt mindestens zwei packende Duelle. Demnächst zum Beispiel: Argentinien gegen Chile und Brasilien gegen Uruguay. Derzeit müssen sich Fußballgroßmächte wie Argentinien und Kolumbien ernsthafte Sorgen um die Teilnahme 2018 in Russland machen.

Mit der WM-Erweiterung auf 48 Teams werden nun die ersten Nachrufe auf diese schönen Eliminatorias verfasst. "Das Turnier hat keinen Sinn mehr, wenn am Ende nur drei Mannschaften auf der Strecke bleiben", meint die argentinische Zeitung La Nación. Zwei Nachfolgemodelle werden bereits diskutiert. Erstens: Eine Unterteilung in zwei Fünfergruppen, in denen dann wohl Brasilien und Argentinien sowie die beiden Bergsportländer Ecuador und Bolivien jeweils getrennt gesetzt wären. Zweitens die Fusionierung mit der Mittel- und Nordamerika-Qualifikation. "Wir haben das noch nicht besprochen, aber ich sage nicht Nein", teilte Alejandro Domínguez mit, der Präsident des südamerikanischen Verbandes Conmebol. Statt auf Messi gegen Luis Suárez oder Neymar gegen Alexis Sánchez dürfte man sich dann künftig wohl auf brasilianische oder argentinische Ersatzspieler gegen Oalex Anderson freuen. Das ist der Topstürmer von St. Vincent und den Grenadinen.

Boris Herrmann

Kasachstan, Aserbaidschan...

Klein ist nicht gleich klein, das lässt sich dieser Tage bestens feststellen. In Aserbaidschan etwa machen sie sich erst gar keine Illusionen. "Die Aufstockung erhöht unsere Chancen auf die Qualifikation auch nicht sehr", sagt Elhan Mamedow, Generalsekretär des nationalen Fußballverbandes. Denn auch wenn rein mathematisch künftig alle Nationen erhöhte Chancen für eine WM-Qualifikation haben, so bleibt bei einigen von ihnen die sportfachliche Wahrscheinlichkeit exakt so klein wie bisher. Das betrifft zum einen die absolut Kleinsten wie Bhutan, Eritrea oder die Bahamas (derzeit alle gemeinsam Weltranglisten-205.). Und zum anderen die europäischen Kleinen wie eben Aserbaidschan oder Moldau. Für die ändert sich im Prinzip nichts, wenn statt 13 künftig 16 europäische Teams zur WM fahren - da sind sie weiter nur schwerlich darunter.

Die hauptsächlichen Reform-Profiteure sind ja die Nationen aus dem Mittelbau des Weltfußballs; Elhan Mamedow muss nur einmal schräg übers Kaspische Meer gucken, um einen typischen Vertreter zu erblicken. Seit geraumer Zeit darf sich Usbekistan zu den besten acht Nationen des asiatischen Fußballverbandes zählen, aber zu einer WM-Endrunde schaffte es bisher nur der Schiedsrichter Rawschan Ermatow und nicht die Nationalelf. Aber wenn jetzt Asien (bisher 4,5) wie auch Afrika (5) einen Zuwachs von vier, fünf Startplätzen erhält, dürfte Usbekistans WM-Premiere nicht mehr fern sein.

Ach ja, und den größten Reform-Verlierer unter den 211 Fifa-Mitgliedern hat Zentralasien auch noch zu bieten, nämlich Kasachstan. 2002 wollte dessen Verband partout die kontinentale Föderation wechseln: raus aus Asiens AFC, rein in Europas Uefa. "Warum haben wir das nur gemacht?", fragt nun ein Autor auf der Plattform sport.kz. Denn für die acht, neun asiatischen Startplätze wäre Kasachstan durchaus infrage gekommen. In Europa aber ist die Qualifikation auch künftig so gut wie unmöglich.

Johannes Aumüller

USA

Jetzt habt euch mal nicht so! Das ist die Reaktion der US-Amerikaner auf die WM-Pläne der Fifa. Das liegt auch daran, dass Aufstockung und Aufblähung zur DNA des amerikanischen Sports gehören. Expansion Teams nennen sie das, wenn eine Liga neue Lizenzen vergibt und ähnlich dem Franchise-System von Schnellrestaurants frische Vereine in bislang unbesetzten Gebieten gründet. Es genügt ein Blick auf die vergangenen 50 Jahre: Die Major League Baseball ist in dieser Zeit um elf Vereine auf derzeit 30 gewachsen, die National Basketball Association hat im Jahr 1976 aus einer Konkurrenzliga vier Klubs aufgenommen und seitdem noch einmal acht Franchises eingeführt. 23 Vereine der National Hockey League haben 1966 noch nicht existiert, und im kommenden Jahr kommen dort noch die Vegas Golden Knights hinzu. Die National Football League bekam durch die Fusion mit der American Football League 1970 zehn und seitdem noch einmal sechs Vereine hinzu. In der kommenden Saison sollen vier Partien in London ausgetragen werden, die Liga will möglichst bald einen eigenen Verein dort installieren und danach möglicherweise auch nach Deutschland expandieren. NFL-Chef Roger Goodell hat den Vereinsbesitzern versprochen, die Einnahmen in den kommenden zehn Jahren auf 25 Milliarden Dollar zu steigern. Entscheidend dafür: neue Fans in neuen Märkten.

Das ist auch der Grund, warum die Amerikaner den Protest der europäischen Traditionalisten nicht nachvollziehen können - und sich nun um die Austragung dieser 48-Nationen-WM im Jahr 2026 bemühen werden, vielleicht gemeinsam mit Mexiko: Durch die Aufstockung kann etwa eine Milliarde Dollar pro Turnier mehr verdient werden. Dieser Beschluss der Fifa ist kapitalistisch - und deshalb durch und durch amerikanisch.

Jürgen Schmieder

© SZ vom 12.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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