Wiener Sprachforscher:"Aus dieser Ära stammt das Scheiberlspiel"

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Robert Sedlaczek über die Historie der wiedererstarkten Kleinstaaten-Kicker.

Interview von Cathrin Kahlweit

Die Partie Österreich gegen Ungarn, die vor hundert Jahren noch als Städtekampf Wien - Budapest ausgetragen wurde, ist die bisher häufigste Länderspiel-Paarung der Fußball-Geschichte: Bereits 136 Mal sind Österreicher und Ungarn seit 1902 gegeneinander angetreten. Nun starten beide Teams in die EM - und treffen prompt zum Auftakt der Gruppe F an diesem Dienstag aufeinander. Der Wiener Fußballfan und Sprachforscher Robert Sedlaczek, Autor des Büchleins "Österreichisch fia Fuaßboifäns", hat sich darüber Gedanken gemacht.

SZ: In der österreichischen Mundart gesprochen, als deren besonderer Kenner Sie gelten, geht es heute beim "Angick" (Anstoß) um mehr als um einen Sieg gegen Ungarn. Denn die Begegnung dieser zwei Nationen ist so historisch belastet wie legendär. Warum eigentlich?

Robert Sedlaczek: Es gibt das alte Bonmot: "Heute spielt Österreich - Ungarn. Gegen wen?" Aber schon die Voraussetzung für diesen Scherz ist falsch, denn es hat - auch in der Habsburger Monarchie - wegen der Eigenstaatlichkeit Ungarns nie eine österreichisch-ungarische Nationalmannschaft gegeben. Das erste so genannte Länderspiel auf dem europäischen Kontinent ohne Beteiligung eines britischen Teams fand 1902 genau zwischen diesen beiden Mannschaften statt - dabei sind allerdings die so genannte cisleithanische gegen die transleithanische Seite der Doppelmonarchie gegeneinander angetreten. Wobei das damals noch unter Städtekampf lief. Budapest siegte 5:0.

Wie ja überhaupt in der Bilanz d es vorigen Jahrhunderts Ungarn vorn liegt.

Stimmt, aber das war anfangs anders. Rund um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde hierzulande der Challenge-Cup ausgetragen, der grundsätzlich offen war für alle Vereine der Monarchie. Da gewannen bis auf eine Ausnahme immer die Wiener . . . Challenge-Cup hieß das, weil die Fußballer ihre Bezeichnungen vom britischen Fußball übernahmen. Es war jene Zeit, als die Buben noch "Fetznlawaln", also Fußbälle aus Stoffresten bastelten und oft noch bloßfüßig spielten, weil sie sich keine Fußballschuhe leisten konnten.

Es gab also mit dem Challenge-Cup schon eine Art Habsburger EM.

Auf Vereinsebene - ja.

Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es einen Wendepunkt im fußballerischen Verhältnis, mehr Rivalität. Von da an haben beide Mannschaften mit wachsendem Nationalbewusstsein gegeneinander gespielt.

Österreich war plötzlich ein Kleinstaat, nach Kriegsende zweifelten viele an der Lebensfähigkeit Österreichs, und Ungarn war vollständig unabhängig, eine Republik. Das Match war ein Kräftemessen, 1927 im Länderspiel zwischen den beiden Staaten wurde das österreichische Nationalbewusstsein erstmals über den Fußball geweckt.

Zwei starke Fußballnationen waren das da mals. Wer oder was stand dahinter?

Ironie des Schicksals: Auf österreichischer Seite dominierten Spieler mit tschechischen Wurzeln. Daher auch dann die neuen Jargonausdrücke, die nicht mehr aus dem Englischen stammten: Der Ur-Wiener sagt bis heute zum Fußball "Wuchtl". Das ist eine Ableitung von der Süßspeise "Buchtl", Prager Spieler haben das Wort nach Österreich gebracht.

Und? Hält die alte Rivalität im Donau-Fußball bis heute?

Ungarn müsste aus historischer Sicht unser Erzrivale sein, ist es aber nicht. Unsere Erzrivalen sind natürlich die Deutschen. Der ganze David-gegen-Goliath-Mythos kann gegenüber den Deutschen ausgelebt werden, das kommt uns Österreichern natürlich gelegen.

Beiden Ländern, Österreich und Ungarn, werden bei der Europameisterschaft in Frankreich nur Außenseiterchancen eingeräumt. Aber immerhin haben sich beide nach einer längeren Pause wieder einmal für ein Turnier auf internationaler Bühne qualifiziert. Beide Teams hatten zuvor einen "Ast", eine Schwächephase. Warum?

Weil durch die Kommerzialisierung und Internationalisierung des Fußballsports die Rahmenbedingungen für Kleinstaaten immer schwieriger geworden sind. Aber immerhin: Die Guten, die Jungen, machen rasch im Ausland Karriere. Die österreichischen Klubs sind mittlerweile Ausbildungsvereine für Deutschland und andere finanzstarke Nationen. Hierzulande hat man sich schon fast damit abgefunden, dass zum Beispiel Red Bull Salzburg die besten Spieler an den Schwesterverein Rasen-Ballsport Leipzig verliert. Viele Österreicher spielen mittlerweile als Legionäre im Ausland. Das galt und gilt für die Ungarn auch. Heute eint uns mehr, als uns trennt.

Das war früher ganz anders, als Österreich mit seinem Wunderteam Furore machte.

Ach, große Zeiten . . . Aus dieser Ära stammt das Wort Scheiberlspiel. "Scheiben" kommt von "schieben" und steht für "den Ball schnell bewegen", ein Kurzpassspiel mit viel Ballbesitz, Pep Guardiola ist heute ein Fan davon. Der berühmteste Spieler des Wunderteams, Matthias Sindelar, analysierte eine hohe Niederlage mit den Worten: "Z' wenich gescheiberlt homma hoid." (Zu wenig gescheiberlt haben wir halt.) So rechtfertigt auch Guardiola Niederlagen, nur mit anderen Worten.

...und überlebensgroß an der Hauswand die rot-weiß-roten Helden von heute: Alaba, Harnik, Arnautovic, Baumgartlinger (von links). (Foto: Christian Bruna/dpa)

Wunderteams hatten ja beide Nationen. Man denke nur an die "Goldene Elf" um Ferenc Puskás, die 1954 im WM-Finale stand und nur durch das "Wunder von Bern" gestoppt werden konnte. Damals wurde Österreich Dritter.

Aber Österreich hatte auch in den Sechzigern unter Teamchef Karl Decker eine tolle Zeit, wir haben gegen Schottland, die UdSSR, Spanien, Italien - und auch gegen Ungarn gewonnen. Dann schlitterten beide Nationalmannschaften in die Mittelmäßigkeit. Bei der EM in Frankreich können sie beweisen, dass diese Phase vorbei ist.

Wie hoch ist denn der Druck im direkten Duell, speziell auf Österreich?

Auch wenn Ungarn nicht mehr unser Erzrivale ist, so ist doch für alle klar, dass wir das gewinnen müssen. Gegen Island dann natürlich auch, denn gegen Portugal wird es schwer. Portugal wird von manchen sogar zu den Turnierfavoriten gezählt.

Es ist ja eine Ironie, dass Ungarns und Österreichs Fußballgeschichte parallel lief: Ruhm, Bedeutungslosigkeit, wichtige Talente gehen ins Ausland und bewähren sich dort, dadurch ein Aufschwung, ein neuer Boom. Aktuell jeweils ausländische Trainer - der Schweizer Marcel Koller für Österreich, der Deutsche Bernd Storck für Ungarn - und nun treffen ausgerechnet im ersten EM-Spiel ihrer Gruppe diese beiden aufeinander.

Trotzdem geht Ungarn nur als Außenseiter in das Match. In der aktuellen Fifa-Weltrangliste liegt Österreich genau zehn Plätze vor Ungarn.

Wird Österreich - Ungarn eine "Agraslpartie" (ein schlechtes Spiel) oder eine "Aansapartie" (ein großartiges Match)?

Wir hoffen natürlich, dass es eine Einserpartie wird.

Um in der Landessprache zu bleiben: Es kommt also auch auf den "Aansagooli" im Tor der Österreicher an?

Genau, das ist Robert Almer, der übrigens auch in Deutschland gespielt hat. Aber bei Hannover 96 war er nur der "Zwaaragooli". Marcel Koller hat trotzdem in der Qualifikation auf ihn gesetzt.

Gibt es nach Ihrer Einschätzung in beiden Mannschaften auch "Antigicka", talentlose Spieler? Oder nur "Primgeiga", also erste Geiger, Supertalente?

Die Welt glaubt, dass alle Österreicher auf Lippizanern reiten, Walzer tanzen und Mozartkugeln essen. Und dass alle Fußballspieler aussehen wie Johann Strauß und auch so "fiedln" können . . . Aber im Ernst: Ein "Primgeiga" ist ein Führungsspieler, wenn er einen schlechten Tag hat, ist er ein "Arschgeiga". Beides kommt vor. Alaba ist bei Bayern München ein ausgezeichneter Außenverteidiger, in der österreichischen Nationalmannschaft will er "Primgeiga" im Mittelfeld sein.

Und mit wie vielen "Bummaln", wie vielen Gegentoren geht Österreich aus dem Spiel gegen Ungarn?

Wenn der Alaba kein Eigentor schießt ( wie zuletzt im Testspiel gegen Malta, d. Red.), haben wir gute Chancen. Aber Spaß beiseite. Wir müssen hoffen, dass all jene Leistungsträger, die lange Zeit verletzt waren, hundertprozentig fit sind - und dass wir "einen Rinner" haben - also dass wir Torchancen der Reihe nach verwerten.

Wer gewinnt die "Bremsn", die Siegesprämie am Ende des Turniers?

Das Wort kennen viele gar nicht mehr. "Das Häfal stemmen", also den Pokal in die Höhe halten - vielleicht werden das die Spanier tun, oder die Deutschen.

Ungarn hat, wenn wir richtig gezählt haben, über all die vielen Fußballjahrzehnte, 66 Mal gegen Österreich gewonnen, Österreich hat 40 Mal die Ungarn besiegt. Nun kommt aktuell die politische Komponente hinzu: Der ungarische Fußballfan und Premier Viktor Orbán hatte zuletzt die Österreicher in Person des zurückgetretenen Kanzlers Werner Faymann stark beschimpft und Österreichs Flüchtlingspolitik massiv kritisiert.

Das spielt heute Abend keine Rolle und hat definitiv keine Bedeutung. Jetzt regiert König Fußball. Und wenn angepfiffen ist, denkt auch niemand an die Erfolge des "Wunderteams" oder der "Goldenen Elf".

© SZ vom 14.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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