Weltmeisterschaften:Ein Tag in der Hölle von Göteborg

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Auf den Tag genau vor 48 Jahren standen sich Deutsche und Schweden im WM-Halbfinale gegenüber - die Niederlage löste in der Bundesrepublik einen Rückfall in nationalistische Ressentiments aus.

Der 24. Juni hat wahrhaftig keinen guten Ruf. An diesem Tag begann die schreckliche Schlacht bei Bannockburn (1314) während der schottischen Unabhängkeitskriege, das deutsche Torpedoboot "S 42" sank in der Elbemündung nach der Kollision (1902) mit einem britischen Dampfer.

Schwedische Fans bevölkern Deutschland - so wie in der "Hölle von Göteburg" dürfte es aber nicht kommen - diesmal spielt die deutsche Elf ja in Deutschland. (Foto: Foto: AFP/ddp)

Und zu allem Übel fand auch noch die durchaus leichtlebige italienische Fürstin Lucrezia Borgia den Tod (1519), die sowohl mit dem Papst ein Verhältnis unterhalten hatte wie mit ihrem Bruder Cesare.

In der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes gilt dieser 175. Tag des Gregorianischen Kalenders als schwarzer Tag, genau vor 48 Jahren erlitt die Nationalmannschaft eine ihrer qualvollsten Niederlagen. 1:3 gegen Schweden im Halbfinale der Weltmeisterschaft 1958, der Verlust des vier Jahre zuvor gewonnenen Titels löste in der Heimat einen regelrechten Schock aus.

Wenn Deutschland derzeit das Gesicht eines "fröhlichen Patriotimus" (Teammanager Oliver Bierhoff) zeigt, dann war es damals die Fratze eines geifernden Nationalismus, in die die Welt blicken musste.

Nach der Vorrunde gegen Argentinien (3:1), die Tschechoslowakei (2:2) und Nordirland (2:2) war das Team der Trainer-Legende Sepp Herberger durch ein 1:0 über Jugoslawien unter die letzten Vier vorgedrungen. Ausgerechnet gegen Gastgeber Schweden sollte sie nun das "Wunder von Bern" wiederholen.

Es erwartete sie die "Hölle von Göteborg". Die Vorschauberichte der schwedischen Presse zielten darauf ab, diese Deutschen in eine Zeit zurückzuschreiben, die 13 Jahre davor zu Ende gegangen war.

"Kriegsfußballer" und "Knochenbrecher"

Die Zeitungen kramten tief in den Kisten mit den militärischen Metaphern: "Tanks, die alles niederwalzen" seien die Adler-Träger, "Knochenbrecher" oder schlicht: "Kriegsfußballer".

Sie zahlten es den Blättern in der Bundesrepublik zurück, die mit ähnlicher Münze in Vorleistung getreten waren. Dort wurde das Spiel kaum verhohlen als Krieg mit anderen Mitteln betrachtet. Die beiläufige Abwertung der gegnerischen Spieler wurde zum Stilmittel, deren Beste wurden als "Fußballsöldner" oder "Legionäre" diffamiert.

"Legionär" ist heute eine gebräuchliche Bezeichnung für einen Auslandsprofi, damals war es ein Ausdruck für Käuflichkeit und charakterlichen Verfall. Die Abwertung meinte die in der italienischen Serie A mit großem Erfolg aufspielenden Schweden Hamrin, Gren, Gustavsson, Skoglund und Liedholm.

In einem Land, in dem ein prominenter Mann wie der evangelische Theologe Helmut Thielicke den von Uwe Seeler erwogenen Wechsel ins Ausland in einer Kanzelpredigt als "schwere Sünde" bezeichnete, waren die Verknüpfung der Begriffe Profi und Ausland doppelter Grund für die Aberkennung jeglicher Ehre.

Eine tief sitzende Aversion gegen alles Fremde schwang da mit, vor allem gegen Italien, das soeben seine ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland geschickt hatte. Italien, das war das Synonym für die mediterrane Verschlagenheit einer Nation von Singvogel-Mördern.

Hauch von Kasino und Spielhalle

In kaum einem Bericht fehlte zudem der Hinweis, die, zugegeben, brillanten Schweden seien mehrheitlich "Berufsspieler", eine subtile Abwertung, in der ein Hauch von Kasino oder Spielhalle mitschwang.

Die deutschen Spieler hingegen wurden zu wahren Musterknaben und unbeugsamen Vertretern des reinen Amateur-Ideals stilisiert: Opfer einer unfair kämpfenden Übermacht, Deutschland gegen den Rest der Welt, wie schon einmal.

Es war nicht nur die bei Länderspielen übliche Antipathie, die den Deutschen auf den Tribünen und jenen auf dem Platz entgegenschlug, sondern eine Inszenierung geballten Zorns. Eine Stunde vor Spielbeginn, es war sechs Uhr abends im Ullevi-Stadion, heizte eine Lautsprecher-Rede das Publikum auf.

In den Kurven des Innenraums, dort, wo Zivilisten normalerweise nichts zu suchen haben, bezogen vier Männer Stellung, eine blaugelbe Dreikronen-Fahne in der einen, ein Megafon in der anderen Hand. Sie übten den Sprechchor ein, der das deutsche Team bis in die Albträume verfolgen sollte.

"Heja Sverige, frisk humör, det ar det, som susen gör! Heja, heja, heja" - Auf geht's Schweden, mit Schwung. Jetzt lassen wir's knallen." Bedrohlich rollte das Gebrüll die Ränge hinauf und kam als peitschendes Echo der 50.000 zurück: "Heja, heja, heja".

Inferno aus tausenden Kehlen

Blockweise wurde das Grollen dirigiert, mal brach das Inferno aus tausenden Kehlen von links auf das Feld herunter, mal von rechts. Bleich vor Schrecken betraten die deutschen Spieler schließlich den Rasen. "Heja, heja, heja".

Als Schiedsrichter Istvan Zsolt aus Ungarn anpfiff, wirkten Herbergers Spieler verstört; auf 6:0 schraubten die Schweden schnell das Eckenverhältnis, vor Torhüter Herkenrath spielten sich haarsträubende Szenen ab.

Doch mitten in die Offensive hinein fiel das 1:0 - für die Deutschen. Hans Schäfer hatte eine Flanke von Uwe Seeler direkt verwandelt. Für einen Moment erstarb das Heja-Heja, brach dann aber mit um so größerer Vehemenz wieder los.

Die Deutschen hatten freilich nun ihr Selbstbewusstsein wiederentdeckt, Fritz Walter schüttelte die Last seiner 37 Jahre ab und schlug punktgenaue Pässe, doch gerade als die Deutschen das Heft in die Hand zu nehmen schienen, kam der Gegenschlag, Linksaußen Skoglund nutzte ein Zögern der Abwehr zum Ausgleich. Handspiel wollten die deutschen Kicker und ihr Publikum gesehen haben.

Das eigentliche Drama nahm nach der Pause seinen Lauf. 58. Minute: Wieder einmal narrt Kurt "Kurre" Hamrin seinen schwerfälligen Gegenspieler Juskowiak, es kommt zu einem Gerangel, Hamrin tritt ein bisschen zu, der Düsseldorfer revanchiert sich.

Hamrin war bekannt für seine Schauspielkünste und diesmal zog er alle Register, wälzte sich so lange theatralisch am Boden, bis Zsolt den Deutschen mit großer Geste des Feldes verwies. 15 Minuten später fiel die Entscheidung: Außenläufer Parling traf Fritz Walter beim Tackling am Knöchel, der Kapitän sank zu Boden, wurde vom Platz getragen und kehrte auf den Rechtsaußenposten zurück, wo er dem Schlusspfiff entgegenhumpelte. Gegen neun Kontrahenten hatten die Schweden leichtes Spiel, Gren und Hamrin stellten auf 3:1, Schweden war im Finale, Deutschland im Endspiel der Besiegten um Platz drei.

Gleich danach erfolgte ein wütender Aufschrei der deutschen Volksseele, 13 Jahre lang mühsam gebändigter Chauvinismus und unter dem Mantel des wirtschaftlichen Aufschwungs versteckter Fremdenhass brachen sich Bahn.

Vier Jahre zuvor glaubten sie durch den Titel von Bern zurückgefunden zu haben an den Tisch der Völkergemeinschaft, nun offenbarte ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung das proletenhafte Gebaren von Parvenüs. Der Sportreporter Gerd Krämer sprach vielen aus der Seele, als er in seinem Buch "Im Dress der elf Besten" die Anfeuerung für das eigene Team als Verstoß gegen die guten Sitten geißelte: "50 000 Schweden haben sich vorbeibenommen... Und dabei waren unter den 50.000 fast lauter ehrsame Bürger, viele gutmütige Familienväter, die zu Hause der Frau beim Geschirrspülen helfen und ihre Kinder huckepack tragen."

DFB-Präsident Peco Bauwens, der schon 1954 durch eine vaterländische Rede unangenehm aufgefallen war, heizte die aggressive Stimmung noch an. "Was hier passiert ist, grenzt an Volksverhetzung, nie mehr werden wir dieses Land betreten, nie mehr gegen Schweden spielen."

Beinahe schüchtern meldeten sich einige besonnene Stimmen zu Wort wie jene von Bundestrainer Herberger, der den Siegern in sportlicher Fairness gratulierte. Überhaupt waren die Beteiligten die Zurückhaltendsten, beispielsweise Helmut Rahn, der in seinen Memoiren davon berichtete, ihm habe "der Zirkus" auf den Rängen nichts anhaben können: "Ich dachte nur an das Spiel, da konnte schreien und pfeifen, wer wollte."

Auch das vermeintlich himmelschreiende Unrecht an Juskowiak hatte Rahn ganz anders im Kopf. "Hamrin", schrieb er, "stellte Erich Juskowiak an diesem Tag vor ein unlösbares Problem. Und weil Jus das spürte, wurde er wütend und ließ sich zu seiner berühmt gewordenen Affekthandlung hinreißen."

Selbst für den Fall, dass Referee Zsolt Gnade vor Recht hätte ergehen lassen, sah Rahn schwarz für seinen Kollegen: "... Hamrin hätte immer einen Weg an ihm vorbei gefunden."

Die deutsche Öffentlichkeit aber rieb sich vor allem am Ungarn Istvan Zsolt, dem die niederträchtigsten Motive untergeschoben wurden, um den deutschen Fußball an einem weiteren Triumph zu hindern. Der Ungar habe sich für das 3:2 von Bern rächen wollen, meinten die einen, während andere in ihm einen finsteren Kommunisten sahen, mit dem Dolch unter dem schwarzen Kittel, um das im Feld unbesiegte deutsche Fußballkommando aus dem Hinterhalt zu meucheln.

Deutschland wurde von einer Welle nationaler Hysterie erfasst, die nicht einmal vor kriminellen Handlungen Halt machte. Auf den Parkplätzen der Autobahn-Raststätten zerstach man Autos mit dem Kennzeichen "S" die Reifen, skandinavischen Touristen, die auf dem Weg in den Süden waren, verweigerte man an den Tankstellen das Benzin.

Keine "Schwedenplatte" mehr

Restaurants entblödeten sich nicht, die "Schwedenplatte" von der Karte zu nehmen, beim Aachener Reitturnier holten Jugendliche nachts die schwedische Fahne vom Mast.

Bis ins Rotlichtviertel der Hamburger Reeperbahn reichte der Volkszorn: "Schweden unerwünscht" hatten Liebesmädchen auf Pappschilder gemalt. Untermalt wurde der Chor der Schreihälse von einer Presse, die alles vergessen hatte, was sie an demokratischer Erziehung genossen hatte.

Besonders aus den Kommentaren der Saar-Zeitung war der Geifer herauszulesen, der den Autor gepackt hatte. Der Schreiber hatte aus den Heja-Sprechchören "den Grundton abgrundtiefer Gehässigkeit herausgehört, wenn nicht den Grundton eines Hasses, der sich nicht nur gegen die deutschen Fußballspieler richtete, sondern gegen die Deutschen schlechthin".

Und weiter: "Das offizielle Schweden hat hämisch genießend zugelassen, dass rund 40.000 Repräsentanten eines Volkes, das sich nie über nationale oder völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat, den Hass über uns auskübelte, der nur aus Minderwertigkeitskomplexen kommt."

Und wie besoffen von der eigenen Häme schließt das Blatt in einem Stil, der dem des nationalsozialistischen Stürmer kaum nachsteht: "Es ist der Hass eines Volkes, dem man das Schnapstrinken verbieten muss, weil es sonst zu einem Volk von maßlosen Säufern würde."

Ein Land spielt verrückt

Über Tage herrschte im Land ein beklemmendes Klima, das die Politiker nicht zu erwärmen vermochten. Kanzler Adenauer hatte nach dem Spiel seine Verbundenheit mit der Mannschaft per Telegramm ausgedrückt, ansonsten schwieg er das Thema lieber tot. Von einem energischen Versuch, die Stimme der Vernunft inmitten des Sturms der Chauvinisten zu erheben, ist nichts bekannt.

Deutschland befand sich im Fußballrausch, wie der Spiegel beobachtet zu haben glaubte; das Interesse der Menschen habe sich auf den grünen Rasen verengt, schließlich erregte "der Sturz des armen Fritz die Bundesbürger mehr als der Sturz der Vierten Republik" des Generals de Gaulle in Frankreich. "Eine Rahn-Bombe", formulierte das Magazin, "ließ sie alle A-Bomben vergessen." Deutschland spielte verrückt.

Es war der 24. Juni 1958. 48 Jahre danach spielt die deutsche Mannschaft erneut gegen Schweden. Aber niemand muss eine Wiederholung der unglaublichen Vorfälle befürchten. Es ist nur wieder ein 24. Juni. Ludger Schulze

Dieser Artikel ist weitgehend einem Beitrag aus dem Buch "WM 1958" der 15-teiligen SZ-WM-Bibliothek entnommen.

© SZ vom 24.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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