Vielseitigkeit:Ritt in die Geschichte

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"Er hat die Fähigkeit, die Distanzen in einem Kurs schon von Weitem zu erkennen", sagt ein Konkurrent über Michael Jung (im Bild mit Pferd Sam). (Foto: imago/Stefan Lafrentz)

Nachdem alle fünf deutschen Vielseitigkeitspferde den Medizin-Check überstanden haben, fordert der Bundestrainer Doppel-Gold. Favorit ist Michael Jung.

Von Gabriele Pochhammer

Wenn man in Rio als "Deutschlands sicherste Goldbank" an den Start geht, dann ist es schwer, noch positiv zu überraschen. Nachdem am Freitag alle fünf deutschen Pferde den Tierarztcheck im Deodoro Reitstadion überstanden haben, schon bevor Sam unter Michael Jung den ersten Huf ins Dressurviereck gesetzt hat, scheint alles klar zu sein. "Wir wollen Doppelgold", sagt Bundestrainer Hans Melzer, und weniger gefestigte Gemüter als der 33 Jahre alte Reiter aus Horb könnten sich unter Druck gesetzt fühlen.

Jung reitet diesmal auf Sam. Der erst neunjährige Takinou bekam vor der Abreise Fieber

Zum Glück hat bei Jung niemand je erlebt, dass ihm die Nerven flattern, wenn es darauf ankommt. Seine sportliche Karriere ist die Geschichte von einem, der alles gewonnen hat im Vielseitigkeitssport, der gleichzeitig Olympiasieger, Weltmeister und Europameister war, der von weltweit fünf Viersterneprüfungen - das ist der höchste Schwierigkeitsgrad im Geländereiten - vier gewonnen hat: Badminton und Burghley in Großbritannien, Kentucky (USA) und natürlich Luhmühlen. Nur im australischen Ort Adelaide war er noch nie. "Das wäre noch mal ein Ziel", sagt er. Für die Sportgeschichte. Neue Ziele zu finden, ist schwer für Jung, zumindest in der Vielseitigkeit. Er kann nur alles noch mal gewinnen. Der Sieger der Spiele von London wäre dann der dritte Reiter, der zweimal bei Olympia auf der höchsten Treppchenstufe steht. Der erste war der Niederländer Charles Pahoud de Mortanges 1928 und 1932. Der Zweite, Mark Todd aus Neuseeland, Sieger von 1984 und 1988, ist in Rio ein Mitbewerber um die Medaillen.

Die Kondition des 16-jährigen Sam ist vielversprechend. Mehrere stramme Galopps bergauf und bergab im Olympiagelände rund um die Militäranlage Deodoro hat er mit Bravour absolviert, von Erschöpfung keine Spur. "Er könnte glatt zehnmal rauf und runter laufen", sagte Jung nach dem Training. Sam ist trotz seiner bewiesenen Klasse die zweite Wahl, denn der erst neunjährige Takinou, mit dem Jung die letzte Sichtung in Aachen gewonnen hat, bekam vor der Abreise Fieber. Der französische Fuchs, mit dem Jung 2015 Europameister geworden war, wurde vor allem wegen seiner Dressurqualitäten ausgewählt. Da bekommt er höhere Noten als Sam (die nach der Dressur in Minuspunkte umgerechnet werden), im Gelände und Springen stehen sich beide Pferde in nichts nach. Kein Reiter ist am Ende besser als sein Dressurergebnis, im Cross und Springen werden Minuspunkte addiert. Theoretisch muss der Dressursieger also "nur" noch im Gelände und Springen fehlerfrei und schnell genug sein, um die Gesamtprüfung zu gewinnen. Aber so einfach ist es natürlich doch nicht. Vor allem nicht bei einem so schweren Kurs wie dem, den der Parcourschef Pierre Michelet in dreijähriger Arbeit ausgetüftelt hat. Entstand bei früheren Spielen schon mal der Eindruck, mit Rücksicht auf schwächere Reiter sei das Niveau auf drei Sterne gesunken, steht für den Franzosen fest: "Olympia heißt vier Sterne." - "Eine Mischung aus Burghley Badminton und Pau", hat Hans Melzer beeindruckt erkannt, will heißen, schwerer geht es eigentlich nicht mehr. Alle 33 Hindernisse haben das Höchstmaß von 1,20 Meter. Das klingt nach wenig - im Spezialspringen geht es über bis zu 1,60 Meter hohe Hindernisse -, aber in Kombination mit trickreichen Wendungen, breiten Gräben und Tiefsprüngen bis zu zwei Meter hinab, brauchen Pferd und Reiter Mut und Können. Von beidem hat Michael Jung reichlich. Was sein Ausnahmetalent ausmacht, darüber rätseln vor allem seine Konkurrenten, die ihm seit sieben Jahren hinterherreiten.

Auch Jungs Mitstreiter Ingrid Klimke und Sandra Auffarth sind Medaillenkandidatinnen

"Er hat die Fähigkeit, die Distanzen in einem Kurs schon von Weitem zu erkennen", sagt der zweimalige Springderbysieger Achaz von Buchwaldt. Schon beim Einreiten, viele Galoppsprünge vor dem Hindernis, weiß Jung, ob er sein Pferd etwas zurückhalten und vorwärtsgehen lassen muss, damit es den besten Absprungpunkt findet. Er sitzt ganz ruhig da oben, muss nur noch unsichtbare Hilfen geben, und das Pferd weiß, es bekommt die beste Chance, seine Sache gut zu machen. Das gibt Vertrauen und Gelassenheit, dann kann auch Unmögliches gelingen. Nicht nur für Jung ist im Moment nichts unmöglich. Seine beiden Mitstreiter, Ingrid Klimke mit Hale Bob und Sandra Auffarth auf Opgun Luovo, sind ebenfalls für eine Medaille gut. Das Team, zu dem als Vierte die erst nach der Verfassungsprüfung gegen Andreas Ostholt eingewechselte Reservistin Julia Krajewski mit Samourai du Tot gehört, wird selbst von den Briten, die jahrzehntelang das Buschreiten dominierten, als Favorit gehandelt. Ostholts Pferd So is et hatte vor dem Abflug ein Eisen verloren, das Risiko erschien zu groß. Sandra Auffarth, die aktuelle Weltmeisterin und Olympiadritte von 2012, ist diejenige, die Jung erst einmal schlagen muss. Sie ist die einzige, die ihm in den letzten sechs Jahren einen Titel abgejagt hat. Und ihr französischer Fuchs Opgun Luovo bekommt in der Dressur in der Regel höhere Noten als Sam. Klarer Vorteil also für Sandra Auffarth.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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