Ukraine:Harmonisch aus Trotz

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Körper und Gemüter abkühlen: Die ukrainische Nationalmannschaft im Eisbad in Aix-en-Provence. (Foto: Maximilian Haupt/dpa)

Der erste Gegner der deutschen Nationalmannschaft ist vor dem Turnierstart mit allerhand internen Problemen beschäftigt. Das Spiel am Sonntag soll davon ablenken.

Von Ulrich Hartmann, Aix-en-Provence

Aus der ukrainischen Mannschaft waren in den vergangenen Wochen allerhand Misstöne zu vernehmen. Spieler haben sich auf dem Platz geprügelt, altgediente Helden wurden ausgemustert und bei russischen Klubs beschäftigte Talente unter der Empörung der Öffentlichkeit nominiert. Es war keine einfache Zeit für den Nationaltrainer Michail Fomenko und seinen Assistenten Andrej Schewtschenko. Aber nun, da sie in Frankreich angekommen sind und an diesem Sonntagabend zum Auftakt gegen Deutschland spielen, setzen sie trotzig auf Wohlklang und Harmonie. In Aix-en-Provence sind sie in ein Hotel gezogen in der 'Avenue Wolfgang Amadeus Mozart'.

Dort entziehen sich die Ukrainer seit ihrer Ankunft weitgehend der Öffentlichkeit, und das sicher nicht, um die Jupiter-Sinfonie zu hören. Wer vor allem Interna zu klären hat, kann Zaungäste nicht gebrauchen. Einmal haben sie im örtlichen Stadion Georges Carcassone öffentlich trainiert, haben die Stadtvertreter geherzt und den etwa 1000 Trainingszuschauern Bälle zugeschossen, aber ansonsten haben sie sich in ihrem Hotel versteckt und hinter abgedeckten Zäunen trainiert.

Nur vier Gegentore in zehn Qualifikationsspielen

Dabei sind die Stärken der ukrainischen Fußballer ja gar kein Geheimnis. Nur vier Gegentore in zehn Qualifikationsgruppenspielen hat die Mannschaft zugelassen, weil sie defensiv stabil steht und ihre Offensivbemühungen nahezu ausschließlich auf Konter über die Flügel konzentriert. Dort spielen links der beim FC Sevilla beschäftigte Jewhen Konopljanka und rechts der bei Dynamo Kiew reüssierende Andrij Jarmolenko. Mit ihnen werden die möglichen deutschen Außenverteidiger Benedikt Höwedes (rechts) und Jonas Hector (links) am Sonntagabend ab 21 Uhr in Lille womöglich ihre liebe Mühe bekommen.

Im denkbaren ukrainischen 4-2-3-1-System spielen Taras Stepanenko (Schachtar Donzek) und Ruslan Rotan (Dnjepropetrowsk) die Doppel-Sechser, denen im versuchten Umschaltspiel gegen vermutlich äußerst dominante Deutsche die wichtigste Aufgabe zukommt. Balleroberungen werden sie schnellstens auf ihre starken Flügelmänner zu spielen versuchen. Diese Ballwege müssen die Deutschen blockieren - das könnte die halbe Miete sein.

Timoschtschuk ist kein Kandidat mehr für die Startelf

In Deutschland bekannte Fußballer spielen in der voraussichtlichen ukrainischen Startelf wohl keine Rolle. Der einst beim FC Bayern München beschäftigte Mittelfeldspieler Anatoli Timoschtschuk ist kein Kandidat für die Startelf, der beim VfB Stuttgart angestellte Stürmer Artem Kravets hat es nicht in den endgültigen EM-Kader geschafft. Und der berühmteste und beste Spieler der ukrainischen Fußballhistorie, Andrej Schewtschenko, ist mit 39 Jahren längst Assistenztrainer und nicht mehr aktiv. Er und Timoschtschuk sind der verlängerte Arm des Trainers Fomenko. "Timoschtschuk ist sehr wichtig, auch in der Kabine", sagt Schewtschenko über den 37-jährigen Defensivspieler, "und wenn er eingewechselt wird, ist ein Spieler mit seiner Erfahrung immer wichtig auf dem Platz, er hat viel Autorität im Team, in wichtigen Momenten kann er Einfluss nehmen."

Dass die Nationalspieler Stepanenko und Jarmolenko Anfang Mai beim Ligaspiel zwischen Donezk und Kiew noch übel aneinandergeraten waren, dass der Nationalheld Oleg Gusev ausgemustert wurde und dass zudem drei Spieler nominiert wurden, die zuletzt an russische Klubs ausgeliehen waren, hatte in der Heimat für Aufsehen gesorgt. Der Erfolg in Frankreich wird darüber entscheiden, ob Fomenko nach der Rückkehr in die Ukraine Schwierigkeiten bekommt. Er selbst sieht die Partie gegen Deutschland als Indikator für die Verfassung seiner Mannschaft, hält aber eher die Partien gegen Nordirland am Donnerstag und Polen am darauffolgenden Dienstag für entscheidend im Kampf um die Achtelfinalplätze.

Doch es geht den Ukrainern nicht nur um Fußball in diesen Tagen, sondern auch um Ablenkung von den politischen Konflikten. "Jede kleine gute Nachricht aus Frankreich macht die Ukrainer ein bisschen glücklicher", sagt der Verbandspräsident Andrej Pawelko. "46 Millionen Menschen hoffen, dass die Mannschaft ihnen positive Emotionen schenkt."

© SZ vom 12.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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