Tschechien:Aus der Reha auf den Rasen

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Lokvenc soll für Tschechien stürmen - dabei ist er nach einem Kreuzbandriss ohne Spielpraxis.

Christian Zaschke

Hatte nicht alles bestens ausgesehen? Die Abwehr ließ weniger durch als die Türsteher einer Nobeldisko, das Mittelfeld produzierte mehr gute Ideen als ein Jahrestreffen der Erfinder, und im Sturm arbeitete Jan Koller und erzielte nach fünf Minuten das 1:0 gegen die USA.

Vratislav Lokvenc beim Spiel gegen die USA (Foto: Foto: AFP)

Alles schien sich zu bestätigen: die Ansicht von Trainer Karel Brückner, dass die Tschechische Republik der Geheimfavorit des Turniers ist, die Annahme, dass das Mittelfeld nicht zu alt, sondern gerade erfahren genug ist, und dass vor allen Dingen der von einem Kreuzbandriss genesene Stürmer Jan Koller besser in Form ist denn je. Am Ende hieß es sogar 3:0 gegen die USA, aber wenn die Tschechen an diesem Samstag zu ihrem zweiten Gruppenspiel gegen Ghana antreten, ist die Euphorie dieses Beginns großer Ungewissheit gewichen.

Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Nach 44 Minuten hatte Koller das Feld verlassen müssen. Erst hieß es, er würde bald wieder spielen können, dann hieß es, er würde sechs Wochen brauchen, um sich zu erholen. Nach einer Untersuchung in Bochum steht nun immerhin fest, dass Koller einen Muskelfaserriss mit Einblutung im Oberschenkel erlitten hat. Wann er wieder spielen kann, ist nach wie vor ungewiss, sicher ist nur: gegen Ghana nicht.

Die taktischen Überlegungen von Trainer Brückner sind damit über den Haufen geworfen worden. Der hatte sich im ersten Spiel für ein 4-5-1 entschieden, mit zwei defensiven Mittelfeldspielern und Koller als einziger Spitze.

Solider Spieler

Mit Koller lässt sich so ein System spielen, und die Frage ist nun, ob es mit einem anderen Stürmer ebenso effektiv sein kann. In Frage kommt wohl allein Vratislav Lokvenc, der Koller auch in der Partie gegen die USA ersetzt hatte.

Lokvenc ist ein solider Spieler, aber er hat nicht die Qualität von Koller. Es war Lokvenc selbst, der kürzlich angemerkt hatte, Koller spiele besser als vor seinem Kreuzbandriss. Auf dieses erstaunliche Phänomen hoffen die Tschechen nun erneut, denn auch Lokvenc ist gerade erst von einem Kreuzbandriss genesen.

Seit der Verletzung im November hat er nach eigener Aussage acht Mal gespielt. "Aber nicht einmal über 90 Minuten", sagte er am Donnerstag im Trainingslager in Westerburg. Es stand wieder einmal ein Geheimtraining an, und diesmal war es wirklich geheim, die Zäune waren abgehängt, Stellwände standen um das Trainingsgelände herum.

Brückner will einstweilen nicht preisgeben, ob er tatsächlich am System festhält und einfach Koller durch Lokvenc ersetzt. Diese Lösung gilt allerdings als die wahrscheinlichste.

Zu zweit ins Krankenhaus

Dass es kaum andere Möglichkeiten gibt, liegt an einer zweiten Verletzung, die das Team seit geraumer Zeit beschäftigt.

Milan Baros leidet noch immer an einer Verletzung an der Ferse, und als Koller zur Untersuchung nach Bochum reiste, fuhr Baros gleich mit. Es ergab sich die unerfreuliche Diagnose, dass sich Flüssigkeit im Fuß von Baros gebildet hat, was bedeutet, dass er noch eine unbestimmte Weile lang nicht spielen kann.

Mittlerweile besteht sogar die Befürchtung, in der Ferse könnte ein Band gerissen sein. Die tschechische Delegation hat bei der Fifa nachgehört, ob es möglich sei, ausnahmsweise noch einen Spieler nachzunominieren, obwohl das nur bis einen Tag vor dem ersten Spiel erlaubt ist.

"Wir wollten das Unmögliche möglich machen", sagte Generalsekretär Petr Fousek. Das Unmögliche blieb jedoch unmöglich, die Fifa habe mitgeteilt, dass es keine Ausnahmen gebe. Am Montag soll Baros nun noch einmal untersucht werden; anschließend soll entschieden werden, ob es für den Stürmer noch eine Chance auf einen Einsatz im Verlaufe des Turniers gibt.

Baros und Koller haben im Nationalteam immer gut harmoniert. In der WM-Qualifikation erzielten sie zusammen 14 Treffer. Baros' Verletzung sorgte für Unruhe, bis sich die von Brückner in der Not ersonnene Lösung mit Koller als einziger Spitze als äußerst praktikabel erwies.

Ob Koller bald wieder fit sein wird ist ungewiss. (Foto: Foto: ddp)

Nun aber besteht wirklich Grund zur Unruhe, und die Spieler werden nervöser. "Ich will darüber nicht mehr sprechen", sagte Torwart Petr Cech am Donnerstag, "wir müssen jetzt irgendwie ins Achtelfinale kommen, und dann sehen wir weiter."

Sprich: Wir müssen einfach hoffen, dass die beiden wieder fit werden.

Lokvenc sieht sich nun unerwartet mit großer Verantwortung beladen. "Ich freue mich über jede Minute, die ich spielen kann", sagte er, "ich habe in jedem Training ein besseres Gefühl."

Allerdings sah er nach seiner Einwechslung gegen die USA die gelbe Karte. Sollte das gegen Ghana wieder passieren, wäre er im letzten und womöglich entscheidenden Gruppenspiel gegen Italien gesperrt. Vielleicht wird Taktiker Brückner dann ein neues System erfinden: ein 4-6-0 .

© SZ vom 17.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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