Tennis:Weingummi gegen die Ballerina

Lesezeit: 3 min

Nicolas Kiefer kehrt auf Wimbledons größte Bühne zurück - als Nebendarsteller.

Von René Hofmann

London - Nicolas Kiefer schläft schlecht dieser Tage. Vielen geht das so in Wimbledon. Das Turnier ist so groß und bedeutend, jeder hat sich viel vorgenommen. Das sorgt für eine gewisse Anspannung. Sue Barker, die 1977 das Halbfinale erreichte und heute für die BBC durchs Wimbledon-Programm führt, sagt: "Nach zwei Wochen hast du Jetlag wie nach einem Flug um die ganze Welt." Ein paar Tage ist das Turnier gerade erst alt. Nicolas Kiefer sieht trotzdem schon mitgenommen aus. Am Mittwoch hat er in der zweiten Runde Alessio di Mauro bezwungen. 6:3, 7:5, 6:3. Im zweiten Satz war ihm der Italiener, Nummer 93, ein Break voraus. Doch Kiefer kämpfte sich zurück. Nach zwei Stunden und sieben Minuten Spielzeit meldete die Deutsche Presse-Agentur: "Kiefer bucht Match gegen Federer." Die Reise geht weiter.

Am heutigen Freitag muss Kiefer gegen die Nummer eins der Weltrangliste antreten. Seit 31 Spielen hat Federer auf Rasen schon nicht mehr verloren. Er ist der große Turnierfavorit. Überall steht das. Das amerikanische Tennis Magazine hat ihn für sein Titelbild im weißen Dress mit einem Holzschläger vor eine Efeuwand auf eine Säule gestellt. Die Zeile dazu heißt: "Ein moderner Klassiker". Das britische Tennis Magazine fragt: "Ist Roger das ultimative Genie?"

Abends, wenn Sue Barker ihren Dienst beendet hat, bringt die BBC Analysen. Die Super-Super-Zeitlupe zerlegt jeden Schlag in tausend Bilder. Seziert sie einen Federer-Schwung, rufen die Tennis-Pathologen: "Schauen Sie, wie schön! Eine Bewegung wie bei einer Ballerina." Der Hype ist so groß, dass die Times ihren Lesern vorschlug, wann immer die Worte "Federer" und "Künstler" in einem Satz fallen, ein Pimm's zu öffnen. Vor Einbruch der Dämmerung könne man dann 14 Tage lang besoffen wie eine Eule durch die Gegend schwanken. Hübsche Idee. Wenn bloß der Jetlag nicht wäre.

Für Pimm's werden Gin, Likör, Fruchtsaft und Gewürze gemischt. 1859 hat ein Barbesitzer das Gebräu erfunden. Das Rezept ist geheim, nur sechs Menschen sollen es kennen. Pimm's ist das britische Sommergetränk schlechthin. 2004 wurden in Wimbledon 150000 Gläser davon verkauft. Bei Federers Lauf und dem schönen Wetter werden es dieses Mal bestimmt 200000. Auch Nicolas Kiefer wird sich mit etwas typisch britischem auf die Begegnung mit dem Schweizer einstimmen: mit Weingummi. Ein Päckchen hat Kiefer jeden Abend verspeist, seit er in London weilt. Davor gibt es Sushi. Bisher hat die Kombination funktioniert. Was er von dem Spiel gegen Federer erwartet? "Ich freue mich", sagt Kiefer: "Er ist im Moment der beste Spieler. Vielleicht ist er sogar der beste Spieler aller Zeiten." Die Aussicht, ihm auf dem renommiertesten aller Tennisplätze gegenübertreten zu dürfen, befeuert Kiefer. Er sagt: "Ich habe einiges gutzumachen."

Erst einmal durfte er vor die Royal Box. 1999, in der zweiten Runde. Sein Gegner damals: Boris Becker. Kiefer war der hohe Favorit, Becker bereits 31. In der ersten Runde hatte er den Briten Miles McLagan, die Weltranglistennummer 298, in fünf Sätzen niedergerungen. Becker kam als müder Außenseiter. Und gewann. Brillant. 6:4, 6:2, 6:4. Ihm glückten siebzehn Asse, Kiefer vier. Trotzig sagte der Junge danach über den Alten: "Er hat die Erfahrung da draußen, und ich jetzt auch." Damals sah es so aus, als würde er Becker folgen können in die großen Stadien. Mit der Niederlage setzte der Umschwung ein. Wenig später überwarf er sich mit dem Teamchef, boykottierte den Davis-Cup und begann in endlosen Streitereien viel Kraft zu verschwenden. Trainer Bob Brett wandte sich ab, erste Verletzungen kamen. Erst jetzt, sechs Jahre später, könnte er wieder einmal hineindürfen in die atemraubende Arena - als Nebendarsteller.

Seine Bilanz gegen Federer ist ordentlich: drei Siege, vier Niederlagen. Der letzte Erfolg ist jedoch schon ein Weilchen her: 2002 in Halle. In den letzten drei Vergleichen gewann Kiefer nicht einen Satz. "Er weiß, wie ich spiele, und ich weiß, wie er spielt", sagt Kiefer über Federer. "Das wird bestimmt kein leichtes Spiel", sagt Federer. In Paris verlor der Schweizer im Halbfinale gegen den Spanier Rafael Nadal. In der Woche darauf hatte er in Halle in der ersten Runde beim 6:7, 7:6, 6:4 gegen Robin Söderling viel Mühe. In Wimbledon wies seine Statistik beim 6:4, 6:2, 6:4 in Runde eins gegen den Franzosen Paul-Henri Mathieu 15 leichte Fehler aus. Danach, beim 6:4, 6:4, 6:1 gegen den Tschechen Ivo Minar, waren es 14. Für den Unfehlbaren sind das viele, für Nicolas Kiefer kleine Hoffnungszeichen. "Wichtig wird ein guter Start sein", sagt er. Und danach? "Über drei Gewinnsätze darf man sich auf Rasen keine Konzentrationsschwäche leisten." Wer gut ausgeschlafen kommt, ist da im Vorteil.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: