Südkorea:Eine Boygroup erschüttert Italien

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Südkoreas Star Ahn trifft per Golden Goal zum 2:1 und steigert die nationale Ekstase abermals / Gelb-Rot für Totti.

Christoph Biermann

(SZ vom 19.6.02) - "Willkommen im Grab der Azzurri", hatte es auf einem großen Transparent geheißen, das auf dem Oberrang des Stadions aufgehängt worden war. Und die ganze Kurve hielt vor dem Spiel Pappkarten in die Luft, auf dass dort "Again 1966" zu sehen war. Und die Geschichte wiederholte sich wirklich, nur mit anderen Protagonisten.

Italiens Altmeister Paolo Maldini (l.) wendet sich ab, während Jung Hwan Ahn (r.) zum Nationalheld wird (Foto: N/A)

Damals hatte ein anonymer Staatsamateur aus Nordkorea namens Pak bei der WM in England Italien aus dem Turnier geschossen. 36 Jahre später ist es nun eine Bande enthusiastischer Boygroup-Fußballer, welche die Sensation wiederholt. Und ein Name wird in Südkorea nun wohl auf Jahre nur mit heiligem Schaudern ausgesprochen werden, der von Jung Hwan Ahn.

Tragischer Held ändert das Drehbuch

Ausgerechnet er, der in Italien sein Geld verdient, beim AC Perugia. Einen Elfmeter hatte er verschossen und war damit als tragische Figur vorgesehen. Doch nach 116 Minuten reckte er den Kopf in eine Flanke und traf zum 2:1 gegen Italien; zum Golden Goal, zur Qualifikation fürs Viertelfinale gegen Spanien - zum Startschuss für nationale Ekstase.

Unglaublich musste es allen Spielern vorkommen, als sie dort auf dem Rasen herumtanzten und sich im Blitzlichtgewitter ihren Fans entgegenstürzten. Denn lange ähnelte die Partie dem Nachmittagsspiel der anderen Gastgeber-Mannschaft. Wie schon Japan schien auch Korea im vierten Spiel des Turniers der Kraftvorteil abhanden gekommen zu sein, der in den vorherigen Partien so geholfen hatte.

"Die rennen wie die Wahnsinnigen"

"Ich weiß nicht, was sie denen zu Essen geben, die rennen wie die Wahnsinnigen", hatte Alessandro del Piero angesichts der bisher gewaltigen Laufanstrengungen der Südkoreaner gesagt. Doch die Antwort darauf lag nicht bei Kimchi und Bulgogi, sondern der aufwändigen Vorbereitung, die Koreas Team in der Vorrunde einen entscheidenden Kraftvorteil verschafft hatte. Gegen Italien schien er dahin.

Verschwunden waren die gewaltigen Wellenbewegungen, in der sich alle Spieler nach vorn bewegt und wieder zurückfallen hatten lassen. Zaghaft wirkten sie, unpräzise und nicht mehr von der wilden Entschlossenheit, die das Etikett des "Korea Team Fighting" mit Leben erfüllt hatte.

Doch es war vor allem ein schon früh vergebener Elfmeter, an dem sich die koreanische Mannschaft lange abarbeiten musste. Es war nicht einmal auszumachen, ob Cocos Foul an Seol oder das von Iualiano an Choi geahndet wurde, aber die Entscheidung von Schiedsrichter Moreno war richtig (5.). Mit einem Treffer hätte Korea Rückenwind bekommen, den es offensichtlich so dringend brauchte. Doch Buffon parierte den Strafstoß von Ahn.

Vieri wie Baggio und Rossi

Genau eine Viertelstunde später hatte dann die italienische Mannschaft das Setting, auf das ihr Trainer Trapattoni ("Es war ein wunderbares Spiel mit vielen Emotionen, der Sieger hätte Italien heißen müssen") gehofft hatte. Der starke Totti brachte einen Eckball hart ans Tor, Vieri köpfte ihn schmucklos ein.

Mit seinem insgesamt neunten Treffer bei WM-Endrunden zog der Inter-Stürmer gleich mit Paulo Rossi und Roberto Baggio. Leicht sah es nun mitunter fast aus für eine italienische Mannschaft, die zwar keine Schönheit, aber doch Klasse zeigte. Die zur Hälfte neuformierte italienische Abwehr hatte mit den Koreaner relativ wenig Probleme. Allerdings bewegten sich die Italiener mit ihrem Spiel auf zunehmend dünnem Eis. Die Koreaner steigerten ihre Anstrengungen nochmals deutlich - und rannten nun wirklich wie die Wahnsinnigen.

Gelb-Rot nach Tottis Schwalbe

Guus Hiddink wechselte dreimal, und mit jedem Mal wurde die Aufstellung offensiver, während Trapattoni auch noch del Piero vom Feld nahm, um in kühler Sachlichkeit das Ergebnis über die Zeit zu bringen. Das wirkte zwar lange sicher, aber in der 88. Minute brach das Eis: Einen weiten Ball ließ Panucci unglücklich abprallen - Ki Hyeon Seol traf zum 1:1.

In der Verlängerung spielten die Koreaner auch wieder gewandt und kombinierten gut. Vom nun völlig losgelösten Publikum in Daejeon angefeuert, feierten sie ihre Wiederauferstehung. Respekt musste man vor dieser Mannschaft haben, die nun auch in der Gefahr, selbst das Golden Goal hinnehmen zu müssen hinreißend stürmte. Totti half ihnen nach 103 Minuten noch weiter auf. Er ließ sich im Strafraum etwas zu früh fallen, der Referee sah es als Schwalbe und zeigte ihm Gelb-Rot.

"Ganz normale Leute"

In Unterzahl war es für die Italiener noch schwerer, zumindest etwas von dem ungeheuren Druck sich zu befreien. In der 111. Minuten waren sogar drei koreanische Angreifer frei vor Buffon, doch Hwang köpfte ihm in die Arme. Es war ein offenes und wildes Hin und Her, das schließlich einen verdienten Sieger fand.

"Es ist einzigartig, was die Mannschaft heute geleistet hat", sagte Hiddink, "aber wir sind ganz normale Leute, die einfach nur hart arbeiten." Das wird ihn an diesem Abend im jubel-taumelnden Korea niemand geglaubt haben.

Spieldaten:

Südkorea: Jae Woon Lee - Jin Cheul Choi, Hong (83. Cha), Tae Young Kim (62. Hwang) - Song, Nam Il Kim (68. Chun Soo Lee), Young Pyo Lee, Yoo - Park, Ahn, Seol.

Italien: Buffon - Panucci, Iuliano, Maldini, Coco - Zambrotta (di Livio), Zanetti, Tommasi - Totti, Del Piero (61. Gattuso) - Vieri.

Tore: 0:1 Vieri (18.), 1:1 Seol (88.), 2:1 Ahn (116./Golden Goal). - Schiedsrichter: Moreno (Ecuador) - Zuschauer: 38588. - Gelbe Karten: Tae Young Kim, Song, Chun Soo Lee, Jin Cheul Choi / Coco, Tommasi, Zanetti. - Gelb-Rote Karte: Totti (103./Unsportlichkeit). - Besonderes Vorkommnis: Ahn scheitert mit Foulelfmeter an Buffon (5.).

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