Straßenrad-WM in Norwegen:Mit einem Anstieg zum Abschluss

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Ist der Parcours in Bergen angemessen für ein WM-Zeitfahren? Seriensieger Tony Martin fühlt sich benachteiligt.

Von Johannes Aumüller, Bergen/Frankfurt

Das Ungetüm, das gerade die Gemüter der Radsport-Szene erhitzt, wartet nach ziemlich genau 27,5 Kilometern. Die Fahrer befinden sich dann im finalen Teil ihrer ohnehin schon anspruchsvollen Schleife rund um die norwegische Hafenstadt Bergen. Doch wenn sie diese Stelle erreicht haben, fahren sie nicht einfach geradeaus die Straße weiter - sondern biegen scharf nach rechts ab. Und dort geht es für die letzten 3,5 Kilometer des Tages einen Anstieg namens Mount Floyen hinauf, diese beeindruckende Touristenattraktion Bergens, einen 320 Meter hohen Hügel mit einer durchschnittlichen Steigung von 9,1 Prozent.

Das mag schöne Bilder geben und für allgemeine Radsport-Verhältnisse auch nach eher verkraftbaren Eckdaten klingen. Aber vor dem Start des Rennens an diesem Mittwoch liefert dieser Mount Floyen doch einen Grund für eine ordentliche Debatte im Peloton: Ist diese Strecke von Bergen noch ein angemessener Parcours für eine Zeitfahr-WM der Radprofis?

Tony Martin, 32, gehört zu den Fahrern, die sich eine Zeitfahr-WM grundsätzlich etwas anders vorstellen. Über Jahre war der gebürtige Cottbuser einer der dominierenden Spezialisten in dieser Disziplin: Vier WM-Titel gewann er zwischen 2011 und 2016, außerdem sieben Zeitfahren bei den drei großen Landes-Rundfahrten, und bei den Olympischen Spielen 2012 wurde er Zweiter. Martin mag all diese Charakteristika, die zum "Kampf gegen die Uhr" zählen, wie das im Radfahrer-Sprech so irritierend heißt: ruhig und gleichmäßig auf einem flachen Terrain 40 oder 50 Kilometer absolvieren, ganz alleine, immer im Wind.

Aber damit hat dieses Rennen von Bergen nur begrenzt etwas zu tun. Dass es diesen schwierigen Schlussanstieg gibt, ist nur das eine; der weitere Umgang damit ist das andere. Der Kurs ist insgesamt relativ kurz, "WM-unwürdig" findet Martin. Und dann hat der Radsport-Weltverband (UCI) kurz vor dem Anstieg auch noch eine Wechselzone eingerichtet, in der die Teilnehmer von der speziellen Zeitfahrmaschine auf ein gewöhnliches Straßenrad wechseln dürfen. So können die Kletterer ihre Qualitäten noch besser ausspielen, die 3,5 Kilometer den Floyen hinauf.

Martin ärgert sich auch, dass die Profis im Zeitfahren das Rad wechseln dürfen

"Ich bin sehr enttäuscht und verstehe nicht, warum sie das erlaubt haben", sagt Martin. "Nun haben die Kletterer einen Vorteil. Wenn ein Kurs wie dieser ausgewählt wird, dann sollte auch jeder Zeitfahr-Räder benutzen." Er selbst wird auf den möglichen Tausch wohl verzichten: "Radwechsel, Zeitverlust, Rhythmuswechsel, andere Sitzposition, das sind mir zu viele Negativaspekte", sagt er.

Nun wirkt solche Kritik einerseits etwas larmoyant, weil wechselnde Kurs-Anforderungen nun mal zum Radsport gehören; mal passt es dem einen etwas besser, mal dem anderen. Andererseits ist feststellbar, dass die klassischen Zeitfahren, wie sie Martin mag, in den vergangenen Jahren etwas aus der Mode gekommen sind. Das war schon bei der Tour de France zu beobachten, nun trifft es selbst die WM. So gelten in Bergen also nicht Zeitfahr-Spezialisten wie Martin oder der Australier Rohan Dennis als Top-Favoriten; sie wären wohl schon mit Bronze zufrieden. Stattdessen haben die Fahrer die besten Aussichten, die auch schon die großen Landesrundfahrten gewannen: Tour- und Vuelta-Sieger Christopher Froome sowie Giro-Triumphator Tom Dumoulin, also Athleten, die Berg- und Zeitfahr-Qualitäten vereinen. "Wir haben die Entscheidung natürlich so zu akzeptieren", sagt Martins Manager Jörg Werner: "Aber es ist schon die Frage, wer da gesucht wird: Der beste Zeitfahrer? Oder der beste Bergzeitfahrer?"

Bei Martin schwingt vielleicht auch deswegen so viel Bedauern über den Kurs mit, weil er sich gut in Form fühlt - und weil ein Erfolg zum Ausklang einer nur durchschnittlich verlaufenen Saison besonders wichtig wäre. Denn auch an den Tagen, an denen der Parcours seinen Fähigkeiten besser zupass kam, zeigte sich zuletzt, dass Martin nicht mehr als der einstmalige Zeitfahr-Dominator aufzutreten vermag. Sein einziger großer Erfolg in den vergangenen zwei Jahren war der WM-Titel 2016 in Katar - auf topfebenem und für ihn maßgeschneidertem Terrain.

Martin hat durchaus viel ausprobiert. Er veränderte seine Sitzposition und änderte sie wieder zurück, als er merkte, dass es nicht funktionierte. Zudem wechselte er das Team; seit Jahresbeginn gehört er der schlecht beleumundeten Katjuscha-Equipe an, die so gerne ihr Image verbessern und sich internationaler aufstellen möchte. Aber das half auch nicht viel.

Große Siege im Zeitfahren blieben in diesem Jahr aus. Bei der Tour de France schaffte Martin es zum Auftakt nicht ins Gelbe Trikot, obwohl das Skript mit einem Zeitfahren am Rheinufer in Düsseldorf auf ihn zugeschnitten war; der Regen und ein starker Geraint Thomas spülten diese Hoffnung weg. Als "mau" bezeichnet Martin seine Saison selbst - und eine Lösung sieht er noch nicht. "Sicher habe ich gerade mental ein paar Probleme, wenn man einmal aus dem Sieges-Flow raus ist. Es fällt schwer, wenn man vorher alles gewonnen hat, dann wieder nach oben zu kommen," sagte er in Bergen: "Ich muss überlegen, was ich ändern kann, um wieder erfolgreicher zu sein."

© SZ vom 20.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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