Sprint:Favoriten in Nebelschwaden

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Die rätselhafte Rückkehr der Langsamkeit im Männer-Sprint oder: Das Pokerspiel von Dwayne Chambers und Maurice Greene.

Michael Gernandt

Das Ereignis, das am 8. August in London Staunen, Hohngelächter und einen Schauer ausgelöst hatte, war nur für wenige Sekunden wahrzunehmen: Auf dem elektronischen Scoreboard im Leichtathletik-Stadion Crystal Palace, wo an diesem Tag der neunte Super Grandprix des Weltverbands IAAF stattfand, leuchtete das Ergebnis des hochrangig besetzten 100-m-Laufes auf. Zu lesen waren zunächst Namen, aber erst die Zahlen hinter den Namen riefen diese ambivalenten Reaktionen hervor: 1. Chambers 9,53 Sekunden, Weltrekord, 2. Collins 9,56 Sekunden, Nationalrekord.

Was sich ausnahm wie Science fiction an der Themse, wie Rekorde vom anderen Stern, die selbst anrüchige Monster-Resultate in der gültigen Bestenliste wie Ergebnisse von Bundesjugendspielen erscheinen ließen, war mehr als nur ein Fehler in der computergesteuerten Londoner Messanlage - es war der Gipfel der Verwirrung um den Männersprint im Jahr der WM 2003. Als müsste die an diesem Tag gleich doppelt belegt werden, präsentierten die Briten, nachdem sie den Spuk gelöscht hatten, 100-m-Werte, die sie vorsorglich mit Methoden aus der Zeit Queen Victorias ermittelt hatten: 10,0 für die ersten Fünf, per Hand gestoppt. Was elektronisch 10,24 gleichzusetzen wäre und auch nicht stimmen konnte, weil der reine Augenschein höheres Tempo verheißen hatte.

So viel Unklarheit in der populärsten Disziplin der Leichtathletik wie jetzt war nie seit 1997. Damals kam ein College-Footballer aus Kansas zum Guru der Sprinttrainer John Smith nach Kalifornien. Smith machte dem Kansas-Mann Beine und so den Sprint berechenbar: Maurice Greene avancierte zum Seriensieger bei drei Weltmeisterschaften über 100 m und Olympia in Sydney. Er kassierte zudem den Weltrekord (9,79), ließ ihn sich aber in der Saison 2002, die er lädiert vorzeitig abbrach, von Landsmann Tim Montgomery (9,78) wieder abnehmen. Beide Faktoren, Greenes Verletzung und Montgomerys Rekordlauf, waren, bei rechtem Licht besehen, die Ursache für den 100-m-Wirrwarr 2003. Gewarnt von den Signalen aus seinen sensiblen Beinen, nahm Greene Schonhaltung ein. Und Montgomery nahm, überfordert vom Ballyhoo um den Rekord und seine folgenreiche Liaison mit Sprintkönigin Marion Jones (sie gebar ihm Ende Juni Tim jr.), nach erschreckend schwachen Rennen Anfang August eine Auszeit (die er zu Beginn dieser Woche für beendet erklärte, nachdem die Ursache seiner Malaise, eine Lebensmittel-Allergie, erkannt und beseitigt wurde). Formschwäche und Absenzen der begabtesten Sprinter minderten das Tempo des 100-m-Laufs anno Nulldrei, steigerten dafür die Zahl der Sieger.

Im Vorjahr registrierte man 27 Zeiten besser als 10,00 Sekunden, darunter drei unter 9,90. Greene (5) und Montgomery (7) belegten davon zwölf. 16 der 27 wurden bis Mitte August erzielt. Bis zum Freitag vergangener Woche hatten dagegen nur der Australier Johnson (9,93), Greene (9,94) und der Nigerianer Aliu (9,98) die 10-Sekunden-Barriere überwunden. Erst am 15. des Monats in Zürich stockten die Amerikaner Capel, Gatlin (je 9,97), Grimes sowie Collins (je 9,99) von den St.Kitts-Inseln auf.

Ursachenforschung, die Rückkehr der Langsamkeit betreffend. Neben dem Greene/Montgomery-Aspekt sind es wohl die folgenden Fakten: 1. Die neue Fehlstartregel schränkt offenbar die Risikobereitschaft der Läufer ein, zu Lasten von ein, zwei Hundertstel. 2. Übersee-Sprinter haben gelernt, ihre Hochform auf das Jahreshauptereignis zu fokussieren, das im Vierjahresblock dreimal im späten August liegt. Als es 2002 für Amerikaner und Karibik-Renner keine Großmeisterschaft gab, flitzten die schon von Mai an schneller als zehn Sekunden.

Wie diffus der Blick auf die Favoriten für das Pariser WM-Finale ist, verrät auch die Siegerliste in den 17 wichtigsten Rennen der Serien Golden League, Super-Grandprix und Grandprix I sowie der Meisterschaften der USA und Großbritanniens und des Europacups: Dort rangieren elf verschiedene Erste. Am häufigsten gewann der bullige Afrikaner Deji Aliu (dreimal). Die aufschlussreichen August-Bewerbe gingen indes an den britischen Europameister Dwayne Chambers (2) sowie die Amerikaner Justin Gatlin und John Capel (je 2). Nur: Gatlin und Capel bestreiten die 100 m bei der WM nicht. Hallenweltmeister Gatlin verpatzte wegen einer noch nicht überwundenen Frühjahrsverletzung die USA-Trials im Juni (!), und der erst jetzt zum 100-m-Lauf konvertierte 200-m-Mann und Ex-Footballprofi Capel darf in Paris nur die 200 m rennen. Beide sind Opfer des oft diskutierten US-Nominierungsverfahrens via Trials - WM-Starter sind unumstößlich die drei ersten dieser Meisterschaft. Komme da, was wolle.

Müssen den Sieger von Paris also Gewissensbisse plagen, weil die Vor-WM-Besten gar keinen Einlass ins Stade de France erhielten, oder hatten Gatlin und Capel nur deshalb bei der Generalprobe in Zürich die Nase vorn, weil Chambers und Greene viel Gefallen am Verwirrspiel gefunden hatten und deshalb so oft fehlten? Auf Rat oder Anweisung ihrer Trainer, wie man annehmen muss. John Smith (Greene) und der in San Francisco lebende Russe Remy Kortschemny (Chambers) haben es jedenfalls faustdick hinter den Ohren. Weshalb es ratsam erscheint, die Nebelschwaden über dem Sprint 2003 jetzt verschwinden zu lassen und Europameister Chambers und Altmeister Greene zu Favoriten erklären.

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