Sportstätten:Mieter im schiefen Turm

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Soll keiner sagen, der Olympiapark von Montréal sei nach den Sommerspielen nicht mit Visionen belebt worden.

Von Thomas Hahn

Nach kurzer Fahrt durch die mausgraue Betonlandschaft unter den Tribünen des Olympiastadions von Montréal parkt Cédric Essiminy den Elektro-Scooter vor einem Holztor. "Diesen Einblick bekommen lokale Journalisten nicht", sagt der Pressesprecher der Olympiapark-Betreibergesellschaft, und er klingt dabei so feierlich, als liege hinter dem Tor und den Schildern, die den Durchgang verbieten, eine geheime Welt der Wunder. Beginnt auf der anderen Seite der Garten der Ideen, in dem Montréals umstrittene Olympiastätten 40 Jahre nach den Sommerspielen endlich zum Stolz Kanadas und der Provinz Québec wachsen? Essiminy bittet, Helm, Signalweste und Überzieher für die Schuhe anzulegen, und geht voran. Vom Stadiontrakt hinüber ins Innere des schiefen Turmes, der hinter der Arena aufragt als das mächtige Symbol für eine Zukunftsarchitektur aus der Vergangenheit - und für einen geschundenen Olympischen Geist.

Olympia 1976. Es ist nicht ganz einfach, sich damit anzufreunden, auch wenn sich dort damals der eine oder andere Höhepunkt ereignete; die erste 10,0-Darbietung der rumänischen Turnerin Nadia Comaneci zum Beispiel. Die Spiele von Montréal stehen für einen Leistungssport, der seine Unschuld längst verloren hatte, aber das Publikum noch leicht darüber hinwegtäuschen konnte. Das Zeitalter der Dopingenthüllungen war noch nicht angebrochen. Es gab keinen Internationalen Sportgerichtshof, keine Welt-Anti-Doping-Agentur, keine staatlichen Anti-Doping-Gesetze. Im Gegenteil, das Unrechtsbewusstsein war wenig entwickelt, wenn es darum ging, im internationalen Sport wettbewerbsfähig zu sein; zum Beispiel in Westdeutschland, wo seinerzeit der heutige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dosiertes Doping befürwortete.

Die DDR-Mannschaft wetteiferte mit der vollen Kraft des noch weithin unbekannten Dopingstaatsplans. Der finnische Langstreckler Lasse Viren stand zwar unter dem Verdacht, er habe seinen Doppel-Olympiasieg über 5000 und 10 000 Meter in Montréal mithilfe von Eigenblutdoping wiederholt. Aber die Debatte war zaghaft und vergeblich - Blutdoping war seinerzeit nicht mal verboten. Außerdem war die olympische Familie zerrissen: 16 afrikanische Staaten boykottierten die Montréal-Spiele, weil das Internationale Olympische Komitee Neuseeland teilnehmen ließ, dessen Rugby-Team zuvor im Apartheid-Staat Südafrika gespielt hatte.

Und in Montréal selbst versöhnen sich die älteren Einwohner erst sehr langsam mit dem olympischen Erbe. Das Jubiläum hat viele wieder daran erinnert, wie der damalige, bis zur Selbstverklärung selbstbewusste Bürgermeister Jean Drapeau den Olympia-Zuschlag einst als weiteren Coup in der Entwicklungsgeschichte der Stadt feierte nach U-Bahn-Bau und der Organisation der Weltausstellung 1967. Und wie dann alles schief ging.

"Olympia kann so wenig Minus machen, wie ein Mann ein Kind kriegen kann", prahlte Drapeau, als Montréal die Spiele hatte. Jahre später zeigte eine Karikatur in der Montréal Gazette den schwangeren Drapeau, wie er ins Telefon raunt: "Hallo, Morgentaler?" Henry Morgentaler war ein Abtreibungsexperte. Korruption und Verzögerungen am Bau nach den Plänen des französischen Meister-Architekten Roger Taillibert belasteten die Vorbereitungen. Das Olympia-Defizit betrug am Schluss 1,6 Milliarden Kanada-Dollar (1,1 Milliarden Euro). 30 Jahre dauerte es, ehe die Schulden unter anderem mittels einer Sonder-Tabaksteuer abbezahlt waren.

Der schiefe Turm, mit 165 Metern der höchste seiner Art weltweit, ist das unübersehbare Denkmal dieses Reinfalls. Fertig war er erst elf Jahre nach den Spielen. Heute trägt er an Kabeln ein Stadiondach, das nicht wirklich wetterfest ist. Er sieht aus wie ein schreiendes Gesicht, das sich verzweifelt über das Stadion beugt.

Aber jetzt soll er für das neue Leben des Olympiaparks stehen. Seit Mai 2014 steht er nachts im Buntlicht. Und Cédric Essiminy von der Betreiber-Gesellschaft "Régie des installations olympiques" (Rio) ist aus gutem Grund erpicht darauf, einen ausländischen Reporter ins Innere des Kolosses zu bringen. Auch wenn er dort keine Welt der Wunder bestaunen kann, sondern nur Bauarbeiter und den Fuß eines 200-Meter-Krans. Aber das ist ja schon viel, wenn man bedenkt, dass es so etwas hier noch nie gab. Die Stockwerke des Turms unterhalb der Aussichtsplattform werden ausgebaut. Eine Bank zieht ab 2018 mit 1500 Mitarbeitern ein. Der erste Mieter nach 30 Jahren. Essiminy sagt: "Das bestätigt die Wiedergeburt des Olympiaparks."

Enttäuschung verjährt, und vielleicht geht Montréals Olympiapark tatsächlich ein in die Geschichte als jenes Olympiaareal, dass erst Jahrzehnte nach der großen Show zur Blüte kommt. Das Olympiastadion mit seinen 56 000 Sitzen ist weiterhin nicht leicht vermittelbar. Es hat kein festes Heimteam, seit der Baseball-Klub Montréal Expos 2004 seine Profiliga- Lizenz an die Washington Nationals verlor. Das Stadion versucht bei Gastspielen und Messen zu leuchten. Olympia-Puristen könnte auch missfallen, dass ein Kommerzkino am Fuße des Turms die Blockbuster-Kultur feilbietet. Im früheren Velodrom ist seit Jahren ein Naturmuseum.

Trotzdem, auch der Sport glänzt wieder mehr. Der Fußballklub Montréal Impact, derzeit Arbeitgeber des alternden Stars Didier Drogba, hat sich im Park ein eigenes Stadion gebaut. Das Olympiabad wurde renoviert, 2014 wurde ein modernes Leistungszentrum eröffnet für neun olympische Sportarten. 29,8 Millionen Kanada-Dollar öffentliches Geld sind in den Umbau geflossen. Rio vermarktet die "Esplanade", die Fläche vor dem Stadion mit ihren verschiedenen Ebenen, als Veranstaltungsgelände für Zeitgeist-Kultur. 2017 kommt die Turn-WM ins Olympiastadion.

Und der Sprecher Essiminy macht einen guten Job beim Versuch, die neue Kraft des alten Parks hervorzuheben. Nichts verschweigen, trotzdem nach vorne schauen - das ist seine Botschaft. "Man muss im Frieden damit sein." Die Zukunft des Olympia-Erbes in Montréal soll jetzt erst so richtig anfangen.

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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