Sportler unter NS-Herrschaft:Der Schläger und der Tänzer

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Eine lesenswerte Doppelbiographie stellt den Fußballer und KZ-Aufseher Otto "Tull" Harder dem Boxer und KZ-Häftling Johann Trollmann gegenüber.

Christian Zaschke

Otto Harder, Tull genannt, entdeckt zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Fußball für sich. Er stammt aus etwas besserem Hause, in dem der neumodische Fußball abgelehnt wird, und deshalb wird er vom Vater geschlagen, wann immer dieser entdeckt, dass der Sohn gespielt hat.

Otto "Tull" Harder: Fußballer, Nazi, KZ-Aufseher. (Foto: Foto: dpa)

Johann Trollmann, Rukeli genannt, entdeckt in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts das Boxen für sich, und er entwickelt einen eigenen Stil; viele Zuschauer sehen eher einen Tänzer als einen Schläger vor sich.

Was Roger Repplinger in seiner Doppelbiographie "Leg dich, Zigeuner" wirklich brillant bewerkstelligt, ist, wie er diese beiden Biographien durch die Zeit und aufeinander zu bewegt. Harder nimmt am Ersten Weltkrieg teil, er gewinnt mit dem Hamburger SV die deutsche Fußball-Meisterschaft 1923 und 1928, er trinkt, er säuft, er ignoriert seine Magengeschwüre, er ist nicht ganz dumm und nicht ganz schlau und wird zum Nazi und KZ-Aufseher. Trollmann ist jünger, er wird in Hannover allmählich zu einem Boxer, den man bewundert oder verachtet, je nachdem.

Ein großes Problem in der Darstellung

Die Frauen bewundern ihn, schreibt Repplinger, und die aufgeschlossenen Männer. Die ihn verachten, sind die, die Boxen als "deutschen Faustkampf" sehen wollen. Wie Repplinger diesen Stil beschreibt, das ist dokumentarisches Erzählen erster Güte: Wie er das Leichte Trollmanns, der Sinto war, gegen all das Schwere setzt, das als deutsch galt, das ist exzellent beschrieben, hier ist die Dokumentation so stark und packend, dass man sich als Leser fragt, warum sich zuvor im Buch so ein großes Problem eröffnen musste.

Dieses Problem ist: Kann man ganz genau wissen, was Otto Harder gedacht hat, als sein Vater ihn schlug? Kann man ganz genau wissen, was Johann Trollmann gedacht hat, als er an einem Regentag zu Hause saß? Natürlich kann man es nicht wissen, aber in Repplingers Buch steht es zu lesen. Harder "stellt sich vor, dass ein anderer geschlagen wird, nicht er. Er sieht zu, wie ein anderer geschlagen wird ... Er stellt sich vor, dass ein anderer die Schmerzen aushalten muss. Das hilft. Die Zähne zusammenbeißen hilft auch." Trollmann "könnte Steine übers Wasser titschen lassen. Man muss die Hand in einer bestimmten Weise halten ... Alleine macht das keinen Spaß. Nein, heute geht er nicht an die Leine. Er bleibt hier. Es ist schöner, dem Regenwasser auf der Straße zuzugucken."

Der Biograph schwingt sich zum Autor der Figuren auf

Repplinger erklärt sich in einem Nachwort: "Die Gedanken von Rukeli Trollmann und Tull Harder kenne auch ich nicht und weiß nicht, was sie gefühlt und gesagt haben. Der Leser muss sich an diesen Stellen darauf verlassen, dass der Autor seine Figuren versteht, sicher kann man sich da nicht sein." Das ist ein mindestens erstaunlicher Ansatz, denn Harder und Trollmann sind eben nicht "Figuren" des Autors, sie sind Personen, die gelebt haben.

Vor allem anderen muss jeder Leser dieses Buchs die Frage mit sich verhandeln, ob er dem Autor dabei trauen will, wie er die Gedanken der Protagonisten nachempfindet oder, ehrlich gesagt: erfindet. Ganz viel in diesem Buch ist exzellent recherchiert und fesselnd aufgeschrieben, aber in diesem Punkt hat sich der Rechercheur und Biograph zum Autor der Figuren aufgeschwungen, die nicht seine sind, er ist ein auktorialer, ein allwissender Erzähler geworden.

Dieses grundsätzliche und tiefgreifende Problem des Buchs muss man erst einmal verdauen, denn Repplinger schreibt seitenlang innere Monologe seiner Protagonisten. Es ist eine gewaltige Anmaßung, durch die der Leser dem Autor folgen muss, bis er zu den wirklich guten Passagen des Buches durchdringt. Das ist bedauerlich, weil die zugrundeliegende Idee das Buch trägt; weil sie ein grundsolides Fundament ist für diese faszinierende Doppelbiographie.

Repplinger schildert die Karrieren der Protagonisten mit Liebe zum Detail, er hat genauestens recherchiert und breitet sein Wissen so gekonnt wie genussvoll aus. 1933 steht Trollmann Adolf Witt gegenüber, es geht um die deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht. Ganz allmählich und ganz genau lässt Repplinger diesen Kampf und die Zeit wieder erstehen. Darf ein Sinto deutscher Meister werden?

Die Funktionäre versuchen, das zu verhindern, sie nehmen den Ringrichter in die Pflicht - doch Trollmann ist zu gut. Er gewinnt. Nach großem Hin und Her wird er zum Sieger erklärt, schließlich aber wird ihm der Titel am grünen Tisch wegen "ungenügender Leistung beider Kämpfer" aberkannt. Da war die Nazi-Ideologie bereits am Werk, und es ist eine späte Genugtuung für die Familie, dass Trollmann der Titel 2003 posthum zugesprochen wurde.

Ein Straßenschild in Hannover

Trollmann wurde umgebracht. Auf dem Straßenschild, das es heute zu seinem Gedenken in Hannover gibt, steht, er sei 1943 im KZ Neuengamme gestorben; Trollmann war in der Tat Häftling in Neuengamme, dieser Tod war allerdings zu seinem Schutz vorgetäuscht worden. Repplinger erzählt, wie Trollmann in Wirklichkeit 1944 in Wittenberge erschlagen wurde. Harder gehörte zu denen, die im KZ Neuengamme ihre tägliche Arbeit verrichteten. Wirklich getroffen haben die beiden, Harder und Trollmann, einander nicht, aber ihre Lebenslinien berührten sich im KZ, und das hat Repplinger zum Anlass genommen, diese Lebenslinien nachzuzeichnen.

Ein wenig willkürlich mag es wirken, aus diesem flüchtigen Zusammentreffen eine Doppelbiographie zu bauen. In einem Roman hätten die beiden einander treffen müssen, natürlich, sie hätten vielleicht eine Auseinandersetzung geführt, vielleicht wären sie einander nahe gewesen. Aber das waren sie nicht, denn dies war das wirkliche Leben, das Leben vor dem Krieg in Nazi-Deutschland und das Leben im KZ, in der Hölle auf Erden.

Fazit: Ein seltsames Buch

Je näher Repplinger diesem Ende seines Erzählens kommt, desto mehr wird sein Erzählen zur virtuosen historischen Nacherzählung und Einordnung. Das Buch wird stetig eindringlicher, je mehr es allein den Fakten vertraut, eben weil der Autor sehr gut recherchiert hat; er braucht seine Nachempfindungen nicht mehr. Wenn er beschreibt, wie Trollmanns Tod im KZ fingiert wird, wie Asche zusammenkehrt wird, um eine Urne zu füllen, dann ist er im besten Sinne ein Erzähler der Geschichte. Und wenn er später schildert, wie Trollmann in Wittenberge erschlagen wird, dann macht er das Grauen der Geschichte auf einfache und unvergessliche Weise greifbar.

Ein seltsames Buch hat Roger Repplinger geschrieben. Erzählerisch flatternd, wenn er glaubt, er sitze in den Köpfen der Protagonisten. Und dann zunehmend ruhig, seinem Wissen vertrauend. Das ist bisweilen brillant, weil Repplinger vom Geschichtenerzähler mit Schmalz zum Geschichtserzähler mit Verve wird. Unerklärlich, dieser Wechsel. Vielleicht sind Otto Harder und vor allem Johann Trollmann dem Autor beim Schreiben allmählich so nahe gekommen, dass er sich von deren vermeintlichen Gedanken lösen konnte, um dann einfach ihre Geschichte aufzuschreiben.

ROGER REPPLINGER: Leg dich, Zigeuner. Die Geschichte von Johann Trollmann und Tull Harder. Piper Verlag, München 2008. 378 Seiten, 22,90 Euro.

© SZ vom 19.05.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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