Sportler des Jahres:Im richtigen Moment schwach

Lesezeit: 3 min

Die herausragenden Sportler 2003: Hannah Stockbauer erfüllt jede, Jan Ullrich kaum eine Vorbild-Rolle.

Von Josef Kelnberger

Hat er nun gewartet auf dem Weg hinauf nach Luz-Ardiden, oder hat er nicht? Lance Armstrong sah sich später Videos an und will dabei entdeckt haben: Jan Ullrich habe nicht auf ihn gewartet. Sei sein Tempo weitergefahren, und sollte er doch gewartet haben, dann hätten ihn die anderen dazu überredet. Aber natürlich hat Jan Ullrich gewartet. Man will, dass er gewartet hat. Er muss gewartet haben. Sonst funktioniert die ganze Geschichte nicht. Die Episode ist Teil des Heldenepos, das Jan Ullrich im Sommer 2003 geschrieben hat. Er wirkte so majestätisch im Sattel, aber gleichzeitig so anrührend verletzlich in dem Moment, als der zuvor gestürzte Lance Armstrong an ihm vorbeikurbelte und sich den Tour-Sieg sicherte. Vor allem deshalb ist Jan Ullrich als Zweiter verehrt worden wie noch keiner vor ihm in Deutschland, wieder aufgenommen worden in die Gemeinde. Weil er auf dem langen Weg hinauf nach Luz-Ardiden Buße tat für all seine Sünden.

Alkohol und Amphetamine

Jahresende, das ist die Zeit der Sportlerwahlen. Man kann sie albern und eitel finden, aber dies ist eben im Sport eine Art, innezuhalten, sich seiner selbst zu vergewissern. Am Sonntagabend wurden in Baden-Baden die von den Sportjournalisten gekürten deutschen Sportler des Jahres 2003 geehrt. Neben der Leistung sollten auch Vorbildfunktion und Fairplay gewürdigt werden. Ranglisten sind Spielerei, die interessanteste Frage war vielmehr: Darf einer wie Ullrich schon wieder als Vorbild durchgehen, zur Nachahmung empfohlen werden? Einer, der seit seinem ersten Toursieg 1997 mit seinem übermäßigen Talent schluderte, als Liebhaber von Schokoriegeln auffällig wurde, während einer langen Verletzungspause alkoholisiert Autos steuerte, zumindest einmal auch Amphetaminen nicht entsagte, was ihm eine Dopingsperre einbrachte?

Um einer modernen Version von Vorbild gerecht zu werden, hätte er folgendes tun müssen: in Interviews seinen Sündenfall aufarbeiten, Stellung nehmen zum Dopingsumpf des Radsports und zu seiner Rolle darin, sich zu einem prononcierten Doping-Gegner aufschwingen und Funktionäre wegen lascher Kontrollen in die Pfanne hauen. Was Ullrich tat: Team Telekom verlassen, sich auf eigene Beine stellen und Armstrong bei der 100. Tour de France ein atemberaubendes Duell liefern im mintgrünen Bianchi-Hemd. Letztlich verlor er die Tour, weil er auf dem Weg nach Luz-Ardiden am falschen Berg angriff. Aber den Mythos schuf er, weil er im richtigen Moment nicht angriff. Die Frage ist nun, ob man sich auf diesen Mythos einlassen will. Es gibt Sportler, so viel steht fest, die machen es Beobachtern leichter.

An jenem Wochenende, als Ullrich auf Armstrong wartete, schwamm Hannah Stockbauer bei der WM in Barcelona ihr letztes Rennen. Es war der sechste Wettkampftag, 800 m Freistil; und sie wurde müde. Als sie nach der letzten Wende auftauchte, merkte sie, dass die Amerikanerin Diana Munz eine halbe Länge vor ihr schwamm. Ein Signal zum aufgeben? Sie nahm der Amerikanerin auf den letzten 50 Metern eine Sekunde ab und schlug als Erste an. Stockbauer ist nun dreifache Weltmeisterin in der olympischen Kernsportart Schwimmen, erfolgreichste deutsche Schwimmerin seit der Wende. Diese 28,5 Sekunden beförderten sie auf den vorläufigen Höhepunkt einer Karriere ohne Brüche. Zweifache Weltmeisterin und Sportlerin des Jahres 2001, Abiturientin 2002, dreifache Weltmeisterin 2003 nach 2500 Trainingskilometern in diesem Jahr. Sie fand den Weg in die Weltspitze mit einem jungen Trainer, hat eine nachvollziehbare Entwicklung genommen, ohne irritierende Leistungssprünge. In ihrem Sog haben sich in Erlangen drei, vier Talente auf den Weg ins Nationalteam gemacht. Man könnte sagen: ein klassisches Vorbild.

Sehnsucht nach Amateuren

Hannah Stockbauer hat sich auch schon mal für eine Fotostrecke ziemlich entblättert, aber genau genommen hat sie Anfang zwanzig noch keinen Schimmer, welches Image sie von sich selbst verbreiten will. In der Beziehung hat sie noch einiges aufzuholen und zu lernen von der Eisschnellläuferin Anni Friesinger, ebenfalls dreifache Weltmeisterin 2003, die so selbstbewusst und eigenvermarktet über die Eisbahnen und durchs Leben flitzt, aber dadurch auch schon wieder Argwohn erweckt. Das liegt an der unstillbaren deutschen Sehnsucht nach der guten alten Amateurzeit, als angeblich alles besser war.

Birgit Prinz und die Fußballerinnen, Mannschaft des Jahres, bedienen sie, als Widerpart zum verkrampften Gekicke der Kahns. Am anderen Ende der Skala steht Michael Schumacher. Als sechsmaliger Weltmeister eine Motorsport-Legende, der bekannteste deutsche Sportler im Ausland, aber in Deutschland ist er seit 1995 nicht mehr Sportler des Jahres geworden, obwohl es doch schon sehr lange her ist, dass er einem Rivalen in die Seite fuhr, um Weltmeister zu werden. Michael Schumacher ist zu reich, zu glatt, zu perfekt - und zu weit weg.

Und Jan Ullrich, ein Vorbild, jetzt, da er sich mit 30 aufmacht, ein selbstbestimmter Sportler zu werden? Alles Lug und Trug im Radsport, sagt der Zyniker und lebt auf der sicheren Seite. Und doch ist Jan Ullrich die charmanteste Wahl des Jahres 2003. Weil er so etwas faszinierendes verkörpert wie - Hoffnung.

© SZ vom 22.12.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: