Spanisches Duell:Spirituelles Motivationsseminar

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Ein eingespieltes Duo: Atletico-Trainer Diego Simeone (rechts) freut sich mit Antoine Griezmann über den Erfolg im Achtelfinale gegen PSV Eindhoven. (Foto: Paul White/AP)

Die letzten sechs Spiele gegen den FC Barcelona hat Atlético Madrid verloren. Also beschwört Trainer Simeone jetzt die Nostalgie.

Von Oliver Meiler, Madrid/München

Wenn ein Trainer seinen gesamten Kader mitnimmt zu einem Auswärtsspiel, in diesem Fall alle 22 Mann, auch die Lädierten und Unpässlichen, dann signalisiert er den Seinen und der Welt rundherum, dass es bei der Expedition um alles geht. Finale, obwohl noch gar nicht Finale ist. Bei Diego Simeone, dem argentinischen Coach von Atlético Madrid, zählen solche Signale oft mehr als ein klarer Spielplan. Das pathetische Beschwören des kämpferischen Kollektivs übertönt jedes taktische Sinnieren. Er ist ein Meister im Einschwören. Firmen aus der Privatwirtschaft buchen ihn dafür.

Nun tritt "Atleti" im Viertelfinale der Champions League gegen den FC Barcelona an, zunächst im Camp Nou, und wieder mutet die Vorbereitung eher wie eine von "Cholos" spiritistischen Motivationssitzungen an. Dabei muss man annehmen, dass die Katalanen nach dem erstaunlich kampflos verlorenen Clásico gegen Real Madrid wahrscheinlich ebenso stark mit den Geistern hadern wie die Gäste. Und wie ist wohl Lionel Messi drauf, der nach höchstens mittelmäßiger Darbietung am Wochenende auch noch unter dem Eindruck der Betrugsvorwürfe aus den "Panama Papers" stehen könnte? Bedrückt ihn die Affäre, oder beschwingt sie ihn mit Trotz? Es ist ja nicht so, dass die Probleme mit der Justiz und der Steuerdisziplin, die seine Karriere seit einigen Jahren schon überschatten, das Entfalten seiner beruflichen Fähigkeiten sonderlich gestört hätten. Messi scheint gut abschalten zu können, zumindest auf dem Rasen.

Atlético hat in den vergangenen zwei Jahren nicht gewonnen gegen Barça. Seit Luis Enrique in Barcelona trainiert, gelang den Madrilenen in sechs Spielen nicht einmal ein Unentschieden. Doch natürlich erinnert man sich lieber an die Zeit unmittelbar davor, an 2014. Da gewann Atlético nicht nur die Meisterschaft, und zwar mit einem Sieg im Camp Nou am letzten Spieltag. Man warf Barça damals auch aus der Champions League - ebenfalls in einem Viertelfinale, das Simeone zum Finale hochstilisiert hatte. Natürlich war 2014 für Barça ein Annus horribilis, gespielt ohne Lust und beendet ohne Titel. Doch manchmal bedient sich die Hoffnung im Jetzt auch bei der Erinnerung an das Gestern.

Ein Mann verkörpert die Nostalgie im besonderen Maß, einer, den sie noch immer "El Niño" rufen, den Jungen, obwohl er mittlerweile 32 Jahre alt ist: Fernando Torres war bei "Atleti" groß geworden, zog dann in die Ferne zum FC Liverpool und kehrte vor einem Jahr etwas abgehalftert zurück. Seitdem schauen ihm die Fans meistens mit einer Mischung aus Wehmut und vorauseilender Melancholie zu, wie er versucht, die Erwartungen zu erfüllen - meist erfolglos. Torres ist ja selbst vor allem ein Fan des Vereins, mehr noch Rojiblanco im Herzen als auf dem Trikot.

Unlängst erzählte er der Financial Times, er habe sich nach der Übersiedlung nach England während dreier Saisons kein einziges Spiel von Atlético anschauen können, weil er sich des Verrats schuldig fühlte. Als er heimkehrte, war es trotzdem so, als wollte man sich nicht eingestehen, dass der "Niño" erwachsen geworden ist. Dazu passte, dass Torres sich beim Blondieren der Haare in der Farbwahl vergriffen hatte. Es sah aus, als trüge er einen Helm, ein bisschen clownesk. Nun aber, ausgerechnet vor den großen Terminen, findet er plötzlich zu alter Klasse. Im Wochenendspiel gegen Betis Sevilla, das Atlético 5:1 gewann, traf er mal wieder und überzeugte insgesamt so sehr, dass ihn Simeone als "titular", als Gesetzen für die Startelf, mit nach Barcelona nahm.

Neben Torres stürmt der französische Nationalspieler Antoine Griezmann, 25 Jahre alt, eine der großen Offenbarungen der laufenden spanischen Meisterschaft. 26 Tore hat "Grizzi" in dieser Spielzeit bislang erzielt, alle Wettbewerbe gezählt. Gegen Betis gelangen ihm zwei Treffer. Griezmann kompensiert schon lange die Schwächen seiner Offensivkollegen mit bemerkenswerter Konstanz und fast allein, er kombiniert mittlerweile kongenial mit Mittelfeldspieler Koke, er holt sich die Bälle aber auch mal selbst aus der Tiefe und balgt sich dabei notfalls mit viel größer gewachsenen Gegnern. Er ist so wichtig geworden für Atlético, dass ihn der Klub mit einer Freikaufklausel über 100 Millionen Euro an sich binden will.

Der Coach predigt "Cholismo" - den Geist der Aufopferung

Griezmann erlebt eine dieser besonderen Geschichten des Sports. Im Burgund, wo er aufwuchs, hielt man ihn für körperlich zu schwach für eine Profikarriere. Als 14-Jähriger fiel er bei einem Jugendturnier dann doch den Spähern von Real Sociedad San Sebastián auf, die ihn samt Familie ins Baskenland holten. Das war ziemlich praktisch, so konnte er seine Schule im französischen Ort Bayonne zu Ende bringen, gleich jenseits der Grenze, nur vierzig Kilometer entfernt. Zehn Jahre lang blieb Griezmann bei Real Sociedad, durchlief dort alle Jugendkategorien, stieg in die erste Mannschaft auf. Vor zwei Jahren wechselte er zu Atlético, um Diego Costa zu ersetzen, den verlängerten Fuß, Arm und Ellbogen Simeones auf dem Platz.

Viel Kredit räumte man dem schmächtigen Franzosen mit dem flaumigen Schnauzbart nicht ein. Zur Präsentation kamen nur 6000 ins Stadion Vicente Calderón. Nun ist alles anders. Auch "Grizzi" hat den "Cholismo" in sich drin, diesen Geist der Aufopferung. Wenn ihm ein Tor gelingen sollte im Camp Nou, vor versammeltem Kader, kollektiv eingeschworen, dann wäre das natürlich so etwas wie die ganz große Weihe.

© SZ vom 05.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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