Spanien:Ein Handschuh für vier Finger

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Spaniens Torhüter Iker Casillas ist mit 27 Jahren schon einer der Erfahrensten im Team der Spanier. Da darf er sich auch ein kleines bisschen Exzentrik leisten.

Ronald Reng

Wie viele Torhüter, die ihre Handschuhe lieben, zieht sie Iker Casillas zum Autogrammschreiben nicht aus. Hinter ihm grasen Schafe an den Hängen des Stubaitals, vor ihm am Fußballplatz in Neustift drängen sich Kinder. Der Filzstift, mit dem Casillas im spanischen EM-Quartier Fotos unterschreibt, liegt wie ein Streichholz in seinem riesigen rechten Torwarthandschuh. Wer sich dicht herandrängt, kann auch den linken Handschuh studieren. Etwas fehlt da. Ein Finger.

Spaniens Torwart Iker Casillas ist ein Gewohnheitstier. Deshalb spielt er mit zusammengeklebtem Mittel- und Ringfinger. (Foto: Foto: Reuters)

"Ich bin wie einer von den Simpsons", sagt Casillas. Wie die Comicfiguren aus der Fernsehserie hat er nun nur vier Finger - wenn er im Tor steht. Seit einem Monat spielt er mit einem extra gefertigten Handschuh, bei dem Ring- und Mittelfinger in einer Fingertasche stecken. Bei der WM 2006 renkte sich Casillas den Ringfinger aus. Um ihn zu stützen, klebte er ihn mit Tapeverband an den Mittelfinger. Der Ringfinger ist längst geheilt: "Aber ich habe mich so an die vereinten Finger gewöhnt, dass ich so weiterspielen will."

"Er wird schon alles halten"

Als Robert Enke, der zweite Torwart der deutschen Nationalelf, davon hört, sagt er: "Das muss ich ausprobieren." Er drückt den Ring- an den Mittelfinger, er hält die Hand hoch, wie um einen fiktiven Ball zu fangen, und sagt dann: "Das geht. Ring- und Mittelfinger oder auch Zeige- und Mittelfinger kannst du zusammen- tapen und spielen. Ich weiß auch, dass es einige Torhüter machen, wenn ein Finger angeknackst ist." Aber freiwillig auf einen gesunden Finger hatte bislang noch kein Torwart verzichtet.

Es ist das kleine bisschen Exzentrik, das sich Iker Casillas gönnt. Er ist 27, Kapitän und mit 75 Länderspielen schon der Veteran dieser spanischen Elf. Wenn Spanien an diesem Dienstag gegen Russland in die EM startet, ist er die Versicherung, dass es schon gutgehen wird. Völlig gegen den Zeitgeist will Spanien mit altmodischem Kurzpassspiel die EM gewinnen, das macht sie zur interessantesten, aber mit körperlich schwachen Passmeistern im Mittelfeld auch zu einer verwundbaren Elf. "Du denkst immer: Iker wird schon alles halten", sagt Xavi, der Mittelfeldhauptmann: "Und dann hält er alles."

Seit zwei Jahren schon ist er als Kandidat in die Debatte aufgenommen: Wer ist der beste Torwart der Welt? Es ist eine unsinnige Diskussion, weil niemand ernsthaft definitive Qualitätsunterschiede zwischen den Besten festmachen kann. Aber trotzdem ist gerade dies das Wunderbare am Fußball: zu palavern, ob nun der Italiener Gianluigi Buffon, Casillas oder Inter Mailands Brasilianer Júlio César die ultimative Nummer eins ist.

Ständig im Rettungseinsatz

Auch Robert Enke saß etwa bei der WM 2006 vor dem Fernseher, um endlich einmal den großen Buffon detailliert zu studieren. Und wie war er? "Man sieht ja nichts!", sagte Enke, "hinter der italienischen Abwehr hat er fast nie etwas zu tun." Tatsächlich ist Buffon gerade deshalb so außergewöhnlich, weil er kaum eingreifen muss und dann trotzdem atemraubend reagiert, wie bei einem Kopfball von Zidane im WM-Finale 2006.

Casillas' Klasse dagegen ist konstant sichtbar. Er ist bei dem recht unorthodox verteidigenden Real ständig im Rettungseinsatz. In der Nationalelf geht es nicht ganz so betriebsam zu, "aber glaube nicht, dass mir deswegen langweilig wird", sagt er.

Er steht dann vor seinem Tor, als gehe ihn das Spiel nichts an. Er hat eine einmalig entspannte Körperhaltung, so wirkt er in der Hitze des Spiels sorglos. "Wie, ich sehe nicht verantwortungsvoll aus?" Natürlich ist er so konzentriert wie alle. Aber seine vermeintliche Lockerheit lässt seine Paraden nur noch spektakulärer erscheinen: Er hat einen unfassbaren Absprung aus dem Stand, und wenn er aus seiner sorglosen Haltung ohne Übergang losfliegt, muss man zwanghaft murmeln: "Qué bestia!" Was für eine Bestie!

Es ist das größte Kompliment, das die spanische Fußballsprache kennt. Bei Real hält er im Schnitt pro Spiel drei Bälle, die ein Torwart in der Regel nicht halten kann. Deshalb, wenn es sich zu entscheiden gilt bei der Unsinnsfrage Buffon, César oder Casillas: für immer Casillas.

Vorstadtjunge aus Móstoles

Kein Mensch ist eindimensional, auch Casillas wird weniger schöne Seiten haben, aber in der Öffentlichkeit hat er das Bild des netten Vorstadtjungen konserviert. Auch als bei Real Stars wie Beckham aus der Galaxis kamen, kam er für jeden sichtbar immer noch aus Móstoles, wo Madrid mit ewig gleichen Häuserblocks ausfranst. Mit 16 ging er erstmals mit Reals Profis auf Reisen. Mit 19 war er schon ein Mann von gestern, Trainer Vicente del Bosque nahm ihn aus dem Tor, "ich weinte, ich dachte, ich würde nie wieder für Real spielen".

Dann verletzte sich im Champions-League-Finale 2002 gegen Leverkusen der erste Torwart, Casillas kam ins Spiel und hielt den 2:1-Sieg mit unmöglichen Paraden fest. Einen Monat später verletzte sich Spaniens Nummer eins, Santiago Cañizares, und Casillas spielte die WM 2002. Für große Torhüter gibt es immer einen Weg zurück.

Es regnet in Strömen beim Training. Plötzlich lachen alle, aber keiner mehr als Iker Casillas. Wie für alle Torhüter, die ihre Handschuhe lieben, gehört dies auch für den Besten der Welt noch immer zu den besten Momenten: den Schuss sanft in den Handschuhen zu begraben - während er mit einem großen Platsch in einer Pfütze landet.

© SZ vom 10.06.2008/pes - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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