Skispringen:Auf Befehl in Kälte und Wind

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Die Vorspringer der Tournee sind die nützlichen Randexistenzen im Rampenlicht - und die Stützen einer Risiko-Gesellschaft.

Thomas Hahn

Durch Schnee und Kälte dringt der Ruf. "Vorspringer!" Und Christoph Lenz weiß, dass es an der Zeit ist, nicht zu viel zu denken. Er darf nicht zögern, auch wenn sein Körper steif gefroren ist von der schlechten Laune des Winters. Er nimmt seine Ski und klettert auf den Balken. Hinter Schleiern aus Wind und Flockenwirbel kann er das Tal des Titlis erahnen, die Dächer Engelbergs, das kleine Schanzenstadion, die Leute, die natürlich nicht auf ihn warten, sondern nur darauf, dass es endlich weitergeht mit den besten Skispringern des Weltcups. Die Jury hat entschieden, dass es diesen Versuch noch wert ist, also wird er springen. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, ist es in Ordnung, heißt es, also hat er Vertrauen, wenn auch Respekt vor der Aufgabe. Gut kann der Sprung nicht werden, denkt er, das Wetter ist feindlich. Aber er weiß, was zu tun ist. Körperschwerpunkt nach hinten, nicht zu aggressiv abspringen. Sonst straft dich der Sturm. Oder der stumpfe Neuschnee bremst dich am Tisch und du fällst vornüber ins Verderben.

Später. Das Springen ist abgebrochen hat, und Christoph Lenz sitzt im Hotel mit den anderen österreichischen Vorspringern. Es war ein anstrengender Tag für sie. Die Arbeitstage der Vorspringer sind immer anstrengend, in gewisser Weise sogar anstrengender als die der Stars, die zwar im Wettkampfstress stehen, aber weniger Sprünge machen müssen und sich in festen Abläufen bewegen. Die Vorspringer sind die Ersten und die Letzten an der Schanze, sie sind ein Team, zehn oder zwölf Mann, von denen zwei immer in Bereitschaft im Freien warten. An manchen Tagen kann sie jeden Moment der Ruf auf den Balken ereilen. Sie sind die Testpiloten der großen Wettkämpfe. Sie müssen erkunden, ob die Schanzen funktionieren, ob sie gleiche Chancen bieten, welche Anlauflänge sie erfordern und auch, ob das Wetter überhaupt ein Springen zulässt.

Bei ruhigem Wetter ist das alles kein Problem für einen guten Skispringer. Bei schlechtem Wetter schon. Bei Wetter wie an diesem Tag in Engelberg zum Beispiel. Christoph Lenz neigt nicht zum Lamentieren. Er ist ein blonder Mensch, 19 Jahre alt, Absolvent des Skigymnasiums in Stams, Sportsoldat im österreichischen Bundesheer, Juniorenweltmeister 2004 mit der Mannschaft, ein Eliteathlet also. Die Vorspringerei am Titlis ist für ihn eine von vielen Etappen auf dem Weg zum Ruhm, und er bewältigt sie mit professionellem Gleichmut. Aber witzig fand er es heute auch nicht da draußen in der zugeschneiten, stockenden Anlaufspur und bei dem prügelharten Seitenwind. Er verzieht keine Miene und sagt: "Es ist schon ein bisserl g'fährlich gewesen in der einen Hinsicht."

Die Wege des Sports sind unermesslich und sie führen zu Nebendarstellern, die eigentlich Hauptdarsteller sind, weil sie die Show erst möglich machen. "Ohne Vorspringer läuft nichts mehr", sagt der Oberstdorfer Skisprungtrainer Peter Leiner, Betreuer der deutschen Vorspringer bei der Vierschanzentournee, die nächste Woche beginnt. Und Peter Leiners österreichisches Pendant, der Stamser Trainerreferent Franz Leiner, sagt: "Man muss das ganz objektiv sehen. Die Vorspringer haben den wichtigsten Job."

Viele von denen, die heute in den höheren Sphären des Weltcups kreisen, sind schon Vorspringer gewesen. Aber die Arbeit ist undankbar, schlecht bezahlt, bisweilen gefährlich, und nicht gerade der Ausweis für ein Formhoch. Es ist vor allem ein Tätigkeit für Gestrandete und Aufstrebende, die von ihrem Traum noch ein ganzes Stück entfernt sind. Vorspringer sind Randexistenzen im Rampenlicht. Kaum eine Sportlergruppe muss ihre Unzulänglichkeiten im Vergleich mit den Besten derart offen zeigen, wie sie.

Bei der Tournee wird das Publikum in den Stadien sie wieder knapp unterhalb des Vorbaus landen sehen, ehe die Elite tief in den Aufsprunghang hineinsegelt, 40, 50 Meter weiter als die Vorspringer. Sie haben schlechteres Material als die Profis, kaum präparierte Ski und keine Zeit zur Vorbereitung des Sprungs, weil sie oft ganz schnell aushelfen müssen. Das ist nicht immer leicht für die Zweitliga-Springer, die manchmal auf Weisung ihrer Verbände den nützlichen Mitspieler geben. Wenn ihre Vernunft spricht, sehen sie den Job als Training und Gelegenheit, vor stattlicher Kulisse zu springen. Aber wenn sie an schlechten Tagen die ganze Tristesse ihres Wirkens anspringt, kann es sein, dass sie so reden wie Marc Vogel aus Einsiedeln, 24, der etwas mürrisch durchs Engelberger Schneetreiben stapfte. Was er sich vornehme als Vorspringer? "Nichts. Gesund bleiben. Man ist da das Kanonenfutter."

Franz Leiner ist ein Mann mit gütigen Zügen, 60 Jahre alt und von Natur aus vorsichtig. Er mag es nicht, wenn jemand Gefahren unterschätzt. Vor drei Jahren hat es ein 13-Jähriger Vorspringer in Bischofshofen zu einem seltenen Publikumserfolg gebracht. Thomas Thurnbichler hatte damals schon auf dem Turm gesagt, dass er nach der Landung zu einem zweiten Sprung ansetzen wollte. So hat er es dann auch gemacht, die Zuschauer waren begeistert. Franz Leiner nicht. "Super Einlage", sagt er gequält, "aber das kann so danebengehen und der Springer ist dann erledigt." Er beobachtet seine Vorspringer genau. Wer ihm zu gestresst erscheint, den nimmt er raus. Vor allem aber beobachtet er die Bedingungen, unter denen sie die Schanzen testen sollen. Vor einigen Jahren beim Bergiselspringen in Innsbruck hat er mal den Betrieb angehalten, weil die Veranstalter den Aufsprunghang nach einem Wärmeeinbruch nicht vollständig präpariert hatten. Aber das Fernsehen, wimmerten die Veranstalter. "Ist mir egal", sagte Franz Leiner, "von meinen Vorspringern springt da keiner."

Franz Leiner mag das Skispringen, und er mag jene, die das Skispringen mögen. Er muss deswegen auch sagen, dass es neben den jungen Aussichtsreichen und den älteren weniger Aussichtsreichen noch eine dritte Gruppe von Vorspringern gibt. "Die Hobbyspringer." Und es könnte sein, dass Franz Leiner diese Gruppe am liebsten mag, was wohl auch daran liegt, dass Hobbyspringer selten sind. Skispringen ein aufwändiger Sport, man braucht eine Schanzen, aber diewenigen Hobbyspringer, die sich darauf einlassen, tragen eine besondere Leidenschaft in sich, und für die will Franz Leiner so lange wie möglich einen Platz in seinen Vorspringerteams frei halten. So wie bei der Tournee. Da hat er wieder sämtliche Hobbyspringer Österreichs eingebaut. Was keine Kunst ist, denn Martin Nagiller sagt: "Es gibt halt nur mich und den Rupprechter Erhard."

Martin Nagiller, 25, und Erhard Rupprechter, 40, haben ähnliche Skisprungkarrieren. Beide haben zu spät auf die Schanze gefunden, um echte Leistungssportler zu werden, Nagiller mit 15, Rupprechter mit 17, aber ihr Herz ist an der Fliegerei hängen geblieben, und sie haben sich dabei ein paar Träume erfüllt. Rupprechter ist in diesem Jahr zum 41. Mal Vorspringer am Bergisel, war bei weiteren Weltcups dabei, bei der WM 1999 in der Ramsau, beim Skifliegen. Nagiller hat schon sechs Tournee-Teilnahmen hinter sich und seinen WM-Einsatz 1999. Bei der WM im Januar am Kulm wird er zum vierten Mal beim Skifliegen dabei sein. "Und eventuell Turin, oder?" Olympia. Franz Leiner nickt.

Rupprechter ist Schichtarbeiter in einem Pharma-Unternehmen, Nagiller hat zwei Berufe: Krankenpfleger und Landwirt auf dem Hof seines Vaters in Aldrans, und neulich ist er für die neueste Auflage des begehrten österreichischen Jungbauernkalenders fotografiert worden. Beide haben nicht viel Zeit zum Trainieren, Nagiller macht seine Sprungkrafttraining manchmal neben der Stallarbeit, und wenn sie Sprünge auf der Schanze brauchen, klinken sie sich einfach ins Kader-Training der Stamser Nachwuchshoffnungen ein.

Die Leidenschaft der Vorspringer ist ernst. Erhard Rupprechter ist schon gesprungen, als noch Vorspringer statt Maschinen die Spur im Anlauf zogen und und es an den Schanzen noch keine Aufzüge gab. Er hat viel erlebt, und wenn es besonders neblig war, und die anderen Vorspringer nicht sicher waren, sagten sie: "Spring du, Ruppi." Denn er hatte die meiste Erfahrung. Aber in diesem Jahr hat er gezögert. Da musste er erst tief in sich hineinhorchen, ehe er entschied, wieder am Bergisel zu springen. Im November ist einer seiner Söhne bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Er bestieg die Schanze in Seefeld mit seiner ganzen Trauer, um sich über sich selbst klar zu werden. Es ging gut, und er fasste den Entschluss. "Ich mach's. Als Andenken. Ich mach's für ihn." Der Sohn war immer so stolz auf die Flüge des Vaters am legendären Bergisel.

Und Martin Nagiller erinnert sich an einen Sprung, den er lieber nicht gemacht hätte. 2004, Skiflug-Weltcup in Oberstdorf. Es tobte ein Sturm. Aber das Fernsehen wollte übertragen, und die Jury fand, einen Versuch sei es wert. Martin Nagiller hat damals ins Gesicht des früheren Team-Weltmeisters Christof Duffner aus Schönwald geschaut, einem ausgewiesenem Draufgänger, und er sah Angst in diesem Gesicht. Doch durch Kälte und Wind drang der Befehl. "Vorspringer!" Nagiller war dran. Er spürte die Böen, die gierig an den Fahnen zerrten. Er dachte, dass er sich seiner Angst nicht ergeben durfte. Du musst dich auf deine Technik besinnen und deinen Willen gegen den Wind stellen. Er sprang. Es ging gut. Der Wettkampf fand nicht statt.

Der Vorspringer Martin Nagiller würde schon sagen, dass Skispringen eine Schule fürs Leben ist. "Man lernt sich selber kennen. Man lernt Gedankenhygiene." Er macht eine Pause, als müsse er noch einmal dieses Wort überdenken. Gedankenhygiene. "Das ist ein guter Ausdruck, glaube ich." - "Ja", sagt Franz Leiner. Und Nagiller sagt: "Weil wenn man auf schlechte Gedanken kommt, nur das Negative und Gefährliche sieht, dann hockt man so passiv rum. Dann geht gar nichts mehr." Vielleicht muss das gar nicht mehr die Sorge der Profis sein, weil die Flüge für sie so selbstverständlich geworden sind und weil sie wissen, dass sie nie die Ersten auf der Schanze sind. Aber für Martin Nagiller, den Jungbauern aus Aldrans, Krankenpfleger und Vorspringer, ist es anders. Er denkt nicht wenig, wenn er vom Balken in die Tiefe schaut. Er denkt das Richtige.

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