Ski alpin in Adelboden:Vernebelter Mythos

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Die Schweizer trifft die Absage des Riesenslaloms in Adelboden hart - denn das Chuenisbärgli, auf dem die Rennpiste liegt, ist ein Nationalheiligtum.

Von Marius Buhl, München

363 Tage im Jahr ist der Berg über Adelboden nur ein ganz gewöhnlicher Berg. Hier und da wiegen ein paar Tannen im Wind, Ziegen grasen auf den Matten, Wolken treiben über die rundliche Kuppe. Dann, es ist immer Anfang Januar, erwacht der Berg. Abertausende Schweizer zwängen sich hinauf ins kleine Adelboden, sie schwenken rote Flaggen mit weißem Kreuz und kreischen, wenn einer ihrer Schweizer Helden in den Fangzaun kracht. Dann wird aus dem gewöhnlichen Berg der Mythos Chuenisbärgli.

Am Samstag sollte es wieder so weit sein. Abertausende Zuschauer stierten hinauf auf die steilste Riesenslalom-Piste des Weltcups. Doch statt Marcel Hirscher oder Felix Neureuther sahen die Fans bloß Herren in langen Regenmänteln den Hang hinunterrutschen. Es waren die Männer von der FIS, und sie hatten schlechte Nachrichten zu überbringen: Anhaltender Regen hatte die Strecke aufgeweicht, aufziehender Nebel die Sicht versperrt. Die Veranstalter sagten den legendären Riesenslalom ab.

Die sagenumwobene Ziege

Es war das sechste Mal innerhalb der letzten 27 Jahre, dass der Riesenslalom nicht stattfinden konnte. Zuletzt hatten die Veranstalter den Event 2010 abgebrochen, damals wegen dichten Nebels. Speziell war auch der Riesenslalom im Jahr 1998. Damals war es so warm, dass die Organisatoren nicht einmal künstlichen Schnee erzeugen konnten. Also fuhren 450 Lastwagen auf den gut eineinhalb Stunden entfernten Grimselpass, um 4000 Kubikmeter Schnee heranzukarren. Ein Riesenaufwand.

Auch in diesem Jahr hätte das Rennen wieder auf externem Schnee stattgefunden. "Wir haben ein kaltes Loch im Unterbirg vor der Engstligenalp, circa zwei Kilometer neben der Strecke gefunden", sagte Hans Pieren, der Rennleiter. Dort sei es stets ein paar Grad kälter gewesen als auf der Rennpiste. Also stellten die Adelbodener Schneekanonen auf und produzierten künstlichen Schnee, hernach fuhren sie diesen mit LKW auf die Piste.

Wer verstehen will, warum die Adelbodener diesen Aufwand betreiben, muss die Bedeutung des Rennens für die Region kennen. Rund 40.000 Zuschauer kommen zu dem Spektakel, der Weltcup generiert rund 20.000 Übernachtungen und knapp fünf Millionen Franken Umsatz. 1,7 Millionen Franken bringt allein der Ticketverkauf. Als die FIS 2005 einen neuen Lift forderte, kamen vier Millionen Franken dafür aus dem Volk. Vier Millionen für einen Sessellift. Doch Zahlen allein erklären den Mythos Chuenisbärgli nicht. Um den zu verstehen, muss man die Geschichten kennen.

Mit Startnummer 60 zum Sieg

Eine geht so: Im fast senkrecht abfallenden Zielhang der Strecke graste vor hunderten von Jahren eine Ziege, die einem Adelbodener Bauern entwischt war. Als der Bauer sein Tier fand, bemerkte er, wie saftig das Gras an dieser Stelle war. Der Bauer erklärte die Wiese deshalb zu adligem Boden. Der Name für das darunterliegende Dorf war gefunden: Adelboden. Überhaupt Namen. Selbst Schweizer, sonst naturgemäß stolze Verfechter ihres Idioms, kommen ins Grübeln, wenn sie das Wort Chuenisbärgli erklären sollen. Bärgli, klar, das ist die Verniedlichung von Berg. Aber Chuenis? Die Neue Zürcher Zeitung hat einmal nachgeforscht: Chuenis sei die Kurzform des alten Schweizer Namens Chuenrat (heute Konrad), der "kühner Rat" bedeute. Und den brauche man schließlich, wenn man die steile Strecke hinabrasen wolle.

Vielleicht ist es aber auch anders. Vielleicht liegt es an Marc Berthod, dass aus dem Chuenisbärgli ein Mythos wurde. Es war im Jahr 2007 als Berthod, der Schweizer Slalomfahrer, sich mit Startnummer 60 auf die Strecke katapultierte. Berthod fuhr brillant. Durch die zerfurchte Piste raste er im ersten Durchgang auf Rang 27. Im zweiten Lauf übertraf er sich dann vollends. Er schoss wie auf Schienen durch den Slalom, tanzte mit den Stangen und zerlegte die Bestzeit um 1,92 Sekunden. 26 weitere Fahrer versuchten Berthod vom Thron zu stoßen - vergeblich. Der Schweizer gewann, das Skistadion in Adelboden erzitterte. Seit diesem Tag ist Berthod ein Nationalheld - und der Mythos um eine spektakuläre Geschichte reicher.

Schlechte Aussichten für Sonntag

Am Samstag erzitterte das Stadion nicht. "Das ist sehr schade, ich habe mich wahnsinnig auf das Rennen gefreut", sagte Felix Neureuther: "Dies ist eines der schönsten Rennen im Jahr. Ich denke, man hätte es zumindest probieren können, wenn man weiß, unter welchen Verhältnissen man im Frühjahr deutsche Meisterschaften fährt." Angesichts der weiter schlechten Wettervorhersage hoffe er für den Slalom "auf ein kleines Wunder". Das dürfte auch nötig sein. Alpindirektor Wolfgang Maier sieht für Sonntag schwarz: "Ganz ehrlich: ich kann mir schwer vorstellen, dass man da einen wettkampftauglichen Hang zusammenbekommt. Es ist schon extrem viel Salz und Wasser drin." Cheftrainer Mathias Berthold meinte: "Ich habe das Gefühl, die Piste ist kurz vor dem Auseinanderbrechen."

Ziemlich bald nach der Absage des Rennens war die steil aufragende Tribüne leer. Zurück blieben am Boden liegende Schweizer Fahnen und traurig dreinblickende Helfer. Ob der Slalom am Sonntag stattfinden kann, wusste niemand. Für die Nacht war Regen angekündigt. Das Chuenisbärgli hatte sich da längst wieder schlafen gelegt.

© SZ vom 10.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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