Siegtorschütze:Der Fuß des Archimedes

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Die 95. Minute läuft - Toni Kroos berechnet Kurven, Geraden und Vektoren mit einer Ruhe, als stehe nicht das Schicksal der DFB-Elf auf dem Spiel. Durch den Kunstschuss wird ihm neue Wertschätzung zuteil.

Von Javier Cáceres, Sotschi

Am Flughafen von Sotschi hatte die Chartermaschine fast schon die Motoren angeworfen. Und im Grunde war nicht mehr sicher, ob es sich noch lohnen würde, die deutsche Mannschaft noch nach Moskau und später in der Woche nach Kasan zu fliegen, zum abschließenden Gruppenspiel gegen Südkorea. Oder ob es vielleicht angebracht wäre, sie in der Dunkelheit der Nacht nach Deutschland auszufliegen.

Im Fischt-Stadion, gut zehn Kilometer entfernt, lief die Nachspielzeit der Begegnung zwischen Schweden und Deutschland, als Timo Werner von einem Abwehrspieler der Skandinavier an der Strafraumgrenze gefoult wurde.

"Flank ihn rein!", brüllte Mats Hummels, der auf der Reservebank saß, weil ihn eine Halsverletzung für die Partie lahm gelegt hatte: "Flank ihn rein!

!" Doch Toni Kroos dachte nicht daran.

Im Gegenteil. Es schien, als mutierte er zu einem Mathematiker vom Schlage des Archimedes. Als ließe er in aller Seelenruhe durch den Kopf rauschen, was er je in seinem Leben über Geraden, Vektoren, Kurven und Krümmungsgrade gelernt hatte. Und vor allem, als blende er aus, dass er die vielleicht letzte Chance auf dem Fuß hatte, die deutsche Nationalmannschaft, den aktuellen Weltmeister, vor einem nahezu sicheren und historisch beispiellosen Vorrunden-K.-o. zu bewahren.

Später, als er aus der Kabine kam, schilderte Kroos in ruhigen Worten, was sich in diesem Moment auf dem Rasen zugetragen hatte. "Ich schieße direkt", habe ihm Marco Reus gesagt, der ebenfalls an die linke Seite des Strafraums geeilt und voller Selbstvertrauen war: Nach der Führung der Schweden durch Ola Toivonen hatte Reus das 1:1 erzielt (48.). Doch Kroos lehnte ab, mit Worten, die tatsächlich so gefallen sein dürften: "Hm", habe er gesagt, "bin ich nicht überzeugt von."

Und da fliegt der Ball in die deutsche Glückseligkeit: Toni Kroos (links) trifft zum 2:1, nachdem ihm Marco Reus bei dem Freistoß in der Nachspielzeit assistiert hatte. (Foto: Frank Augstein/dpa)

Hingegen waren beide fest überzeugt davon, dass Hummels' Idee zu flanken nicht fruchten würde. "Es war ja das ganze Spiel so, dass die Schweden hohe Flanken einfach rausgeköpft hatten", erklärte Kroos, "und dann haben wir uns für den Weg entschieden, einfach noch mal reinzuspielen, um einen besseren Winkel zu bekommen für den Schuss - und dann zu schießen." Also tippte Kroos nach Abschluss seiner kühlen Kalkulationen den Ball an, observierte, wie Reus ihn zärtlich und präzise stoppte - und zwirbelte ihn artistisch in den Winkel des gegenüberliegenden Pfostens, damit die Reise nach Watutinki ihren Sinn behielt.

Doch es war eben auch ein Tor von brutaler Schönheit: In Brasilien hätten sie nach alter Sitte gleich eine Erinnerungstafel aus schwerem Metall in Auftrag gegeben, um sie an die Stadionmauern des Fischt-Stadions zu montieren, das für einen Augenblick erbebte - unter dem Jubel der Deutschen über das Kroos'sche Tor und unter dem Niedergang der schwedischen Hoffnungen, die mit der Wucht von Meteoriten zu Boden krachten. Denn das war die Kehrseite des ekstatischen Moments der Deutschen: die Tränen von Torwart Robin Olsen, der, auch das sei gesagt, nicht das beste Stellungsspiel zeigte, standen stellvertretend für die Erkenntnis des Abends aus schwedischer Sicht. "Fußball kann grausam sein", sagte Mittelfeldspieler Emil Forsberg, nachdem das 2:1 besiegelt war.

Es hat einige Tore in letzter Minute gegeben in der Geschichte des Fußballs. Doch einen Treffer, der einen aktuellen Weltmeister von der Qual befreit? Fehlanzeige. Und nicht nur das: Mit Kroos' Treffer hat es eine weitere Bewandtnis. Womöglich trägt er dazu bei, einem Spieler, dem immer noch die Aura des Unverstandenen anhaftet, eine neue Form der Anerkennung angedeihen zu lassen.

Es mangelt ja nicht an Experten und an Fans, die das Wesen des Toni Kroos missbilligen, weil sich sein Auftreten nicht mit ihrem eigenem Verständnis vom Spiel deckt; einem Verständnis, das sich über Begriffe wie "Körpersprache", "Hintern aufreißen", oder, wie man in Kroos' Wahlheimat Madrid sagen würde, "cojones" definiert. Sie dürften sich am Samstag auch lange in ihrer Weltsicht bestätigt gefühlt haben - womit wir beim schwedischen Führungstreffer wären. Denn den Flirt des Weltmeisters mit dem Abgrund hatte derselbe Toni Kroos heraufbeschworen, der sein Hemd nie durchzuschwitzen scheint.

Die Befreiung: Nach dem erlösenden Treffer zelebrieren Toni Kroos (vorne) und Marco Reus einen fast synchronen Jubel. (Foto: Andreas Gebert/dpa)

Eine knappe halbe Stunde lang hatte Kroos ein für ihn typisches Spiel abgeliefert. Er stabilisierte und strukturierte die Partie, ohne dass es weiter auffiel - bis er zwei Fehlpässe spielte, gewissermaßen wider die eigene Natur. Beim ersten musste Sebastian Rudy Kopf und Kragen riskieren; er bezahlte es mit einem Nasenbruch und einer Auswechslung. Dann unterlief Kroos im Mittelfeld ein weit folgenschwererer Fehlpass. Der Ball sollte den eingewechselten Ilkay Gündogan erreichen, der Schwede Marcus Berg fing ihn ab und leitete damit Toivonens Treffer ein - während Kroos wieder bewies, dass er in diesem Leben den Krebsgang nicht mehr erlernen wird. Er war nicht schnell genug zurück, um das 0:1 zu verhindern.

"Natürlich brauchen wir nicht darüber zu reden, dass das 0:1 auf meine Kappe geht", sagte Kroos später: "Das war ein relativ einfacher Fehlpass, der mir normalerweise so nicht passiert. Aber es kommt vor. Wenn man im Spiel 400 Pässe spielt, kommen auch mal zwei nicht an, und der hat zum Tor geführt." Es gibt Fußballer, die an solchen Fehlern zerbrechen. Die ihr Schamgefühl durch das ganze Spiel tragen. Kroos tat es nicht. Im Gegenteil.

Er verlor weder Contenance noch Kompass. Er forderte die Bälle mit noch größerer Entschlossenheit, er erhielt sie und verarbeitete sie mit unaufgeregter Courage, als um ihn herum so viele Kollegen das eigene Team am Abgrund wähnten. In der zweiten Halbzeit gab es kaum einen deutschen Angriff, an dem Kroos nicht beteiligt gewesen wäre - so auch an jenen, der zum 1:1 durch Marco Reus führte. Kroos leitete den Treffer mit einem Pass auf Stürmer Timo Werner ein, der dann zum Flankengeber wurde. Und Kroos gab nicht auf, bis er die Scharte ausgewetzt hatte.

Laut Match-Statistik schlug Kroos zwar keine 400, aber 127 Pässe, von denen 121 ihren Adressaten fanden: 95 Prozent. Kein deutscher Spieler intervenierte häufiger - und auch kein Schwede. Das gesamte skandinavische Team kam auf 213 Pässe.

Auch das erklärt, warum die deutsche Elf so viel Ballbesitz hatte (75 Prozent) und Schweden so wenig. Und es erklärt, warum Gary Lineker, der frühere englische Stürmer, seinen legendären Aphorismus paraphrasieren konnte, wonach Fußball ein Spiel sei, bei dem die Deutschen am Ende gewinnen - "irgendwie", ergänzte Lineker nun Sonntagnacht auf Twitter.

Doch das stimmt längst nicht mehr. Die Deutschen walzen ihre Gegner nicht mehr nieder wie einst. Sie spielen sie in Grund und Boden. Das Tor, das Kroos nach 94 Minuten und 42 Sekunden erzielte und das er zu feiern begann, ehe der Ball die Linie vollständig überquert hatte, stand symbolisch dafür. In all seiner Pracht, in all seiner Anmut und in all der Brutalität, die kein Schwede mehr vergessen wird, so alt er auch werden mag.

© SZ vom 25.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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