Sieg gegen Dortmund:Leipzig kommt mit Gebrüll

Lesezeit: 3 min

Ein Aufsteiger macht Alarm: Stefan Ilsanker (links), Torschütze Naby Keita, Timo Werner (vorne) sowie Marcel Halstenberg. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Im ersten Bundesliga-Spiel in der Stadt seit 22 Jahren wird Borussia Dortmund in der Schlussphase 1:0 besiegt. Schon ist da die Frage: Wo liegen die Grenzen dieses reichsten Aufsteigers der Liga-Historie?

Von Sebastian Fischer, Leipzig

Ein bisschen ist die Explosion am nächsten Morgen noch spürbar. Zwar ist es ruhig am Trainingszentrum von RB Leipzig, die geschwungenen Tribünendächer des Stadions am anderen Ufer des Elsterbeckens ragen hinter Baumwipfeln hervor. Dort haben die Leipziger am Samstag ihr erstes Bundesliga-Heimspiel gegen Borussia Dortmund mit 1:0 gewonnen, hier geht die Arbeit weiter. Doch anders als sonst sind Fernsehteams da, sie filmen Fans, die den Spielern beim Auslaufen zujubeln. Ein Mann im RB-Trikot - "Bubi" steht unter der Nummer 66 - darf vor die Kamera, er schwärmt von der Stimmung im Stadion, emotional sei es gewesen. Er trägt einen Kilt, eine Hommage an diesen neuen Stürmer aus Schottland.

"Explosion", so hatten die Leipziger Fußballer abends zuvor genannt, was jetzt ein großer Teil der Leipziger Fußball-Historie ist. Es lief die 89. Minute des ersten Bundesligaspiels in der Stadt seit 22 Jahren, Emil Forsberg, der alte Schwede, spielte den Ball auf Oliver Burke, den neuen Schotten. Der passte ihn in die Mitte, wo die Dortmunder Abwehr Naby Keita vergessen hatte. Keita schoss, unhaltbar. Und dann rauschte dieser stolze Schrei der Erlösung durchs Stadion. Leipzig ist jetzt da. Leipzig kommt mit Gebrüll.

Auf dem von Ordnern in orangenen Warnwesten bewachten Betriebsgelände hängen Banner mit inspirierenden Zitaten am Zaun neben dem Rasen, auf dem die Spieler Runden laufen. Eines der früheren amerikanischen Skifahrerin Picabo Street lautet: "Um dein wahres Potenzial zu entdecken, musst du zuerst deine eigenen Grenzen finden." Das ist es, was sich Fußballdeutschland nun fragt, nach dem Sieg gegen die zweitbeste Mannschaft der Republik: Wo sind die Grenzen dieses reichsten Aufsteigers der Bundesligageschichte, dessen allgegenwärtiger Sponsor damit wirbt, über Grenzen einfach hinwegzufliegen?

"Es war schon ein feiner Spielzug", sagt Oliver Burke nach dem Auslaufen und blinzelt in die Sonne. Vorbereiter Burke und Torschütze Keita kamen im Sommer für je 15 Millionen Euro, Burke von Nottingham Forest, Keita von RB Salzburg. Trainer Ralph Hasenhüttl ließ beide gegen Dortmund anfangs auf der Bank, ebenso Forsberg - dann wechselte er den Sieg ein. Hasenhüttl sagte: "Der Moment, in dem wir Qualität nachlegen können, ist für mich als Trainer sehr angenehm."

"35 Prozent Ballbesitz, das wird charakteristisch für unser Spiel sein", kündigt Leipzigs Trainer an

Burke, 19, ist auf dem Platz eine Art Kampfhund mit Samtfüßen. Ein Brecher, 188 Zentimeter groß und stämmig, aber ballfertig. Es ist davon auszugehen, dass er in Zukunft selten erst in der 69. Minute kommt wie am Samstag, sondern das Leipziger Spiel mit seinem Tordrang von der Außenstürmerposition prägt. Burke war nicht nur von Leipzig umworben, er stand auch in anderen Städten und Ländern auf Transfer-Wunschzetteln. "Amazing", sei die Stimmung gewesen, "amazing" auch, wie er in der Mannschaft integriert worden sei. Er müsse sich nur noch an das Defensivverhalten gewöhnen. Den Ball so schnell wie möglich zurückzuerobern, das System Leipziger Prägung, kennt er aus England nicht. Es ist ja auch ziemlich amazing, verwunderlich.

Im Schnitt hatte RB gegen Dortmund 35 Prozent Ballbesitz, in einigen Phasen noch weniger, lief dafür aber fünf Kilometer mehr. Es ist nicht neu, dass sie in Leipzig auf Ballbesitz pfeifen und ihr Spiel taktisch radikal auf schnelle Kontermomente auslegen. Aber dass es gleich gegen Dortmund klappt? Hasenhüttl hat in der vergangenen Saison beim FC Ingolstadt auch so spielen lassen, er scheint die Dinge nahezu identisch am neuen Arbeitsplatz aufziehen zu wollen, nur mit talentierterem Personal. Sogar das Vokabular hat er aus Ingolstadt übernommen. Dort war ehrfürchtig von ekelhaftem Fußball die Rede; "abartig" nannte Hasenhüttl nun die Stimmung in Leipzig, es war positiv gemeint.

Gegen den BVB zog sich seine Mannschaft zwischenzeitlich auch etwas weiter zurück, jagte den Ball an der Mittellinie, umzingelte Dortmunds Sechser Julian Weigl wie eine Horde fieser Jungs auf dem Schulhof. Es funktionierte, der BVB spielte Fehlpässe, und Hasenhüttl erklärte das Auftreten hinterher zur Blaupause: "35 Prozent Ballbesitz, das wird charakteristisch für unser Spiel sein."

Wohin wird das führen? Der Schotte Burke hatte am Samstag im Gespräch mit einem britischen Journalisten noch rhetorisch gefragt: "Warum sollten wir die Liga nicht gewinnen?" Tags darauf passte er sich dem Duktus seiner Kollegen an: Amazing? Ja. Überbewerten? Nein.

Der Leipziger Fußball hat auch seine Grenzen, unter Hektik und Aufwand leidet die Passqualität. Der Sieg hätte ganz schnell eine Niederlage sein können, hätte Dortmunds André Schürrle kurz vor Schluss beim Stand von 0:0 die Unter- anstatt die Oberkante der Latte getroffen. BVB-Trainer Thomas Tuchel merkte mit Blick auf die Leipziger Entwicklung an, dass es "manchmal schwerer ist, den zweiten Schritt zu gehen, wenn dir plötzlich so ein großer gelingt wie heute". Hasenhüttl schaute zustimmend.

Es gibt kaum eine Persönlichkeit im deutschen Fußball, die maximal forsche Töne so gut in das Gewand politisch korrekter Aussagen kleiden kann wie Ralf Rangnick. "Die Jungs wissen, wo wir herkommen", sagte Leipzigs Sportdirektor: aus der Regionalliga, in der RB vor vier Jahren noch spielte. So weit, so korrekt. Aber: "Das Tor, die Art und Weise, war sicher kein Zufall." Er zitierte die Torschuss-Statistik: 10:8 für Leipzig. Und sagte: "Wir müssen auf diesem Weg weitergehen."

Am Sonntag schreibt Rangnick Autogramme, lässt sich mit Fans fotografieren, schaut ein Spiel der A-Jugend. Alle paar Minuten schießt Leipzig ein Tor. Wer der Gegner ist? Ein Ordner in orangener Warnweste zuckt mit den Achseln. "Ach", sagt er, "irgendwas mit Oldenburg." Die Fußballprovinz, sie ist kein Maßstab mehr.

© SZ vom 12.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: