Selbstbewusste Isländer:"Dann würde wohl keiner zur Arbeit gehen"

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Der frühere Bundesliga-Profi Asgeir Sigurvinsson traut seinen Landsleuten im Viertelfinale gegen Frankreich die nächste Sensation zu.

Interview Von Peter M. Birrer

Wer kannte sie schon, diese Sigurdssons und Skulasons, Halldorssons und Arnasons, diese Kicker von Krasnodar und Odense, Bodö Glimt und Malmö? Sie kamen als Außenseiter - und schafften es, zu einer großen Turnierattraktion zu werden: Die Isländer überstanden die Vorrunde, schafften im Achtelfinale gegen England die Sensation, und am Sonntagabend (21 Uhr, ZDF) wollen sie Frankreich ärgern.

Asgeir Sigurvinsson, 61, acht Jahre lang eleganter Spielmacher beim VfB Stuttgart und 45-facher Nationalspieler, ist wie viele seiner Landsleute losgereist, um im Stade Saint-Denis dabei zu sein. In der Heimat herrscht der Ausnahmezustand. Nichts ist für die 330 000 Einwohner derzeit mehr von Bedeutung als das, was ihre sportlichen Botschafter bei der EM abliefern. Sigurvinsson glaubt an eine Fortsetzung der Geschichte.

SZ: Ist die Insel an diesem Wochenende noch bewohnt, oder sind alle Isländer in Paris?

Sigurvinsson ( lacht laut): Es macht fast den Anschein. Nein, nein, es gibt schon noch ein paar, die zu Hause sind. Wir bekommen leider nicht so viele Tickets wie erhofft und werden gegen die Franzosen in der Minderheit sein.

Lässt die Nationalmannschaft niemanden unberührt?

Nein, alle sind aufgeregt und aufgewühlt. Die Euphorie war schon vor dem Turnier riesig. Wir hatten uns zum ersten Mal qualifiziert und so auf die fußballerische Weltkarte gebracht. Aber aus diesem Abenteuer ist viel mehr geworden als erwartet. Was abgeht, ist ein Wahnsinn.

Arbeitet keiner mehr?

Doch, doch, aber wenn unsere Mannschaft spielte, gaben viele Firmen frei oder stellten für die Angestellten einen großen Bildschirm auf. Wir sind ein kleines Land, in dem praktisch jeder jeden kennt. Und alle sind, was den Sport angeht, auf der gleichen Linie. Darum ist auch die Freude über unsere Spieler bei der EM so riesig. Schon als die Handballer 2008 bei Olympia Silber holten, war dieser riesige Zusammenhalt, dieser Stolz zu beobachten. Aber das hat nun noch einmal neue Dimensionen angenommen.

Kann man mit solchen Fans verlieren? Die isländische Mannschaft feiert mit ihren Anhängern. (Foto: Claude Paris/AP)

Rechneten die meisten Isländer damit, dass nach einer Woche das Turnier zu Ende ist?

Nein. Wir wussten schon, dass wir in der Gruppe mit Portugal, Ungarn und Österreich nicht chancenlos sind, die Vorrunde zu überstehen. Schließlich hatten wir in der Qualifikation schon mit Siegen gegen Holland, die Türkei und Tschechien bewiesen, wozu wir fähig sind.

Reisten die Isländer völlig unbeschwert zur EM?

Absolut. Wir durften endlich die große Bühne betreten. Es gibt keinen Grund, sich davor zu fürchten, im Gegenteil. Wir genießen das. Und wir starteten mit einem großen Vorteil: Mit der Qualifikation hatten wir bereits gewonnen. Wenn wir in der Gruppenphase ausgeschieden wären, hätte es geheißen: Ist ja klar, Island, Außenseiter, keine Stars...

...Stars gibt es tatsächlich nicht viele...

...stimmt. Wir haben Gylfi Sigurdsson, der in der Premier League spielt, er ist ein großer Name für uns. Und Kolbeinn Sigthorsson von Nantes ist noch einer. Aber sonst? Die meisten verdienen mit dem Fußball zehnmal weniger als Sigurdsson oder Sightorsson. Aber deswegen ist keiner neidisch oder beleidigt. Überhaupt ist das Geld in der Nationalmannschaft kein Thema. Die Spieler sind da, weil sie stolz sind, Island repräsentieren zu dürfen.

Was sehen Sie, wenn Sie den Isländern zuschauen?

Nicht die talentierteste, nicht die risikofreudigste Mannschaft, aber eine, die realistischen Fußball bietet. Wir versuchen nichts, was wir nicht können. Begeisterung, Leidenschaft und ein ausgeprägtes Wir-Gefühl haben uns so weit getragen.

Bilden diese Eigenschaften die isländische Mentalität ab?

Durchaus. Der Isländer ist bereit, viel für den Erfolg zu investieren. Er ist fleißig, beharrlich, und zielstrebig. Manchmal kommt es mir vor wie in einer großen Familie: In Island sind alle per Du miteinander, und wenn einer Probleme hat, erhält er garantiert Unterstützung von irgendjemandem. So funktionieren auch die Fußballer. Sie sind füreinander da. Und sie kennen sich seit Jahren sehr gut, viele waren zusammen in der U21.

Klingt verdächtig nach elf Freunden...

...was heißt elf? 23! Dazu kommen mit Trainer Lars Lagerbäck und seinen Mitarbeitern hervorragende Leute. Jeder einzelne weiß, was es von ihm braucht, um die Grenzen zu verschieben. Ein Cristiano Ronaldo rennt nicht 90 Minuten für die Mannschaft, er läuft für sich. Ein Sigurdsson hingegen ackert für das Team, die eigenen Interessen sind ihm unwichtig. So ticken alle in der Delegation. Wissen Sie, vor dem Achtelfinale gegen England hörte ich verschiedentlich, nun sei Schluss für uns. Aber die Spieler denken nicht so.

Sondern wie?

Selbstbewusst. Sie kennen ihre eigenen Stärken. Und es gab keinen Grund, vor den Engländern Angst zu haben. Für mich war es das leichteste Spiel bisher. Der Gegner glaubte doch nie an ein solches Ende. Wie es dann herauskam, machte mich unheimlich stolz, ich war sehr gerührt. Sogar die Engländer haben uns applaudiert.

Applaus gibt es von überall.

Oh ja. Selbst aus Schweden! Und aus Norwegen! Nach unserem 2:1 gegen England hat eine norwegische Zeitung auf ihrer Titelseite auf Isländisch geschrieben: "Ja, wir lieben dieses Land." Mit der Art, wie wir uns präsentieren, kann man sich gut identifizieren. Beim Achtelfinale in Nizza waren neben mir auch viele andere ehemalige Nationalspieler Islands. Das sagt alles über die Verbundenheit.

Und beim Schlachtruf "Hu! Hu! Hu!" machen Sie ebenfalls mit?

Natürlich, das macht jeder richtige Isländer...

...und wenn Sie daheim vor dem Fernseher ein Spiel verfolgen?

Auch! Das gehört immer dazu. Wenn ich in Reykjavik die EM schaue, sind meistens 15, 20 Freunde dabei. Dann wird Gas gegeben, und es ist sehr laut.

Wie gut tun die sportlichen Schlagzeilen einem Land, das von einer Finanz- und Regierungskrise durchgeschüttelt worden ist?

Sie helfen, das Selbstwertgefühl zu steigern und Probleme vorübergehend auszublenden. Gegenwärtig verliert niemand ein Wort über irgendwelche Krisen.

Was dürfte los sein, falls die Mannschaft nun den Coup gegen Frankreich schafft?

Dann würde am Montag wohl keiner zur Arbeit gehen in Island. Wobei selbst nach einer Niederlage bis in die Morgenstunden gefeiert wird. Mit Arbeiten wird es am Montag sowieso eng.

Ein EM-Halbfinale mit Island - klingt irgendwie unrealistisch.

Aber schön! Und für mich realistisch. Die Abwehr der Franzosen ist nicht die stabilste. Gut, nach vorne haben sie hochkarätige Kaliber. Aber wir haben schon gegen andere Große gespielt, und die sind an unserer Verteidigung abgeprallt. Wir geben den gegnerischen Stürmern keine Räume. Und wissen Sie, in Frankreich behaupten sie zwar: Wir müssen uns vor diesem Viertelfinalgegner in Acht nehmen. Aber im Unterbewusstsein denken sie bestimmt, dass der Einzug in das Halbfinale einfach wird. Uns kann das nur recht sein.

Sie führen in Island eine Nachwuchsakademie. Wie steht es um neue Talente?

Wir machen Fortschritte und profitieren natürlich davon, wenn die Nationalmannschaft in ganz Europa wirbt. Der Verband investiert immer mehr Geld in die Förderung der Jungen, in die Ausbildung der Trainer, in die Infrastruktur. Wir haben mittlerweile dank Fußballhallen Möglichkeiten, selbst im tiefsten Winter trainieren zu können. Das fördert natürlich das technische Niveau. Wir kommen auf jeden Fall vorwärts, auch wenn wir zwischendurch einen Schritt retour machen müssen. Aber das lässt sich nicht vermeiden.

Das heißt?

Wir werden in Zukunft nicht bei jedem großen Turnier dabei sein. Das ist bei der Größe Islands und den nicht einmal 100 Profis gar nicht möglich. Und wir werden folglich auch nie in der Lage sein, Zauberfußball zu zeigen. Eines hingegen ist stets dabei: das Herz.

© SZ vom 03.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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