Sechster Triumph in Melbourne:Paris zum Dessert

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Melbourne-Sieger Novak Djokovic spielt seit 15 Monaten das Tennis seines Lebens. Und so soll es auch weitergehen. 2016 könnte er alle vier Grand Slams gewinnen.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Fassungslos drehte sich Novak Djokovic um, er staunte und riss die Augen auf. "So was habe ich hier noch nie erlebt", sagte er. Unterhalb der Plattform mit dem Ministudio des Fernsehsenders Channel 7 standen 1000 serbische Fans und schwenkten Fahnen, "wir lieben dich", rief ein Chor. Djokovic übersetzte das für die australischen Zuschauer vor den Bildschirmen und sagte: "Jetzt wollen sie meine Schuhe." Wenig später, als sie mit der Forderung nicht aufhörten, warf Djokovic seine Sneaker hinunter. Es dauerte nicht lange, da meldete sich sein Sponsor per Twitter zu Wort und textete: "Wir erstellen die Schuhe. Er erstellt die Geschichte."

Ein bisschen ist es wirklich so. "Ich spiele in den vergangenen 15 Monaten das beste Tennis meines Lebens", sagte Djokovic, nachdem er das nächste Häkchen hinter ein gestecktes Ziel gesetzt hatte: seinen sechsten Titel bei den Australian Open. In 2:53 Stunden hatte er den schottischen Weltranglisten-Zweiten Andy Murray 6:1, 7:5, 7:6 (3) besiegt, womit er zur früheren australischen Tennis-Größe Roy Emerson aufschloss. Der hatte seinen Lauf zwischen 1961 und 1967. Djokovic triumphierte in Melbourne 2008, 2011, 2012, 2013, 2015, 2016. Binnen eineinhalb Jahren hat Djokovic fünf Grand-Slam-Titel gewonnen, stets mit Boris Becker als Trainer an seiner Seite. Wie Djokovic das findet? "Ich darf mir nicht erlauben, mich zu entspannen und zu genießen", sagt er.

Vom Publikum in Melbourne verabschiedete er sich mit dem Gruß: "See you next year!" Er wird also wiederkommen. Eine Metapher, verriet Djokovic, habe er dieses Jahr in Australien aufgeschnappt. "Der Wolf, der den Berg besteigt, ist hungriger als der Wolf, der oben steht." Das gefällt ihm. Unwahrscheinlich, dass Canis Lupus Djokovic jetzt locker lässt.

Mit welcher Entschlossenheit er auftritt, belegen drei Sätze samt Spielzeiten. 6:1 in 30 Minuten. 6:1 in 24 Minuten. 6:1 in 30 Minuten. Mit solchen Gala-Vorstellungen fegte Djokovic jeweils im ersten Durchgang in Doha über Rafael Nadal und in Melbourne über Roger Federer und über Andy Murray hinweg. "Diese drei sehe ich als meine größten Rivalen", sagt Djokovic, "gegen sie will ich bestehen." Das glückt gerade sehr gut.

Die sechste Trophäe in Melbourne, insgesamt elf Grand-Slam-Siege, fünf seit anderthalb Jahren: Novak Djokovic ist der maßgebliche Spieler seiner Zeit. (Foto: Jack Thomas/Getty)

Im Moment wirkt er auch der ärgsten Konkurrenz entrückt. Wie das glückte? "Wenn ich ein, zwei Dinge benennen könnte, könnten es ja alle machen", sagt Djokovic. Und es gibt ja auch mehr als ein oder zwei Dinge, die selbst Beobachter aufzählen können: Djokovics gewissenhafte Trainingsarbeit, sein Austausch über Strategien mit Becker, die grundsätzliche Einstellung, "sich zu diesem Sport zu bekennen", wie Djokovic selbst sagt. "Novak hat sicher eine Chance", prognostizierte Rod Laver in Melbourne, als er gefragt wurde, ob Djokovic nun den Grand Slam schaffen könne - den Triumph bei allen vier Major-Turnieren in einem Jahr. Laver, 77, ist der Einzige, dem das zweimal glückte. Brad Gilbert, einst selbst Profi und danach einige Zeit lang Coach von Andre Agassi, bekam die Frage gestellt, ob Djokovic nun der "greatest of all time" werden könne. Gilberts knappe Antwort: "Ja."

Djokovic hat eine herausragende Fähigkeit: Er kann den Platz abdecken, wie es in der Fachsprache heißt; er eröffnet dem Gegner kaum offene Felder, um den Ball zu platzieren. Mit seiner beeindruckenden Athletik wirkt er zudem so präsent, dass dies selbst starke Herausforderer wie Murray zermürbt. Außerdem kann Djokovic Punkte aufbauen. Wie ein Schachspieler ist er in Gedanken häufig schon drei, vier Züge weiter. Er spekuliert nicht auf einen schnellen Abschluss, sondern treibt den Gegner Schlag für Schlag ein klein bisschen mehr in die Ecken, bis er vollstreckt.

Murray, der nun zum fünften Mal in Melbourne im Finale stand und verlor, konnte danach nicht mal genau sagen, "wie weit weg ich heute von ihm war". "Auch Novak kann nicht zwei Wochen am Limit spielen. Nach zwei Jahren Zusammenarbeit wissen wir aber alle, was zu tun ist", erklärte Boris Becker: "Er spielt den Ball nun viel schneller zurück, weil er ihn früher schlägt. Dahinter stecken viele Wiederholungen im Training und das eine oder andere Match, in dem er bewusst viel riskiert, um dieses Spiel zu perfektionieren - unabhängig vom Resultat." Beckers Einfluss auf Djokovic wächst immer noch an. Nach dem Triumph schritt der Besitzer von elf Grand-Slam-Trophäen zum früheren Profi, beide umarmten sich inniglich, Becker hatte feuchte Augen.

Djokovics Gestik und Mimik haben sich verändert, seit er Becker engagiert hat. Bei einem TV-Auftritt schob er, während er etwas erklärte, die aufgeklappte linke Handfläche vor und zurück. Becker macht das seit Jahrzehnten so. Im Wettkampf geht Djokovic jetzt scheinbar noch aufrechter, manchmal wirkt er dabei fast martialisch. Djokovic ist klug, sprachbegabt und abseits des Tennisplatzes durchaus zuvorkommend. Er weiß: Den Preis als Darling der Tenniswelt wird er nie gewinnen, so viel Applaus wie Roger Federer wird er nie ernten. Mit diesem Rang aber hat Djokovic sich arrangiert. "In den letzten Jahren habe ich herausgefunden, dass du dich als Person nicht in eine berufliche und private aufteilen kannst", sagt er: Der Wolf steht nun dazu, ein Wolf zu sein.

Ob auch er sehe, welchen Abstand er zwischen sich und alle anderen gelegt hat, wurde Djokovic gefragt. Seine Antwort: "Ich will mir selbst nicht erlauben, so zu denken. Du bekommst sonst sofort vom Schicksal eine Ohrfeige verpasst." Ein Grand-Slam-Titel fehlt ihm noch: der nächste, der Ende Mai in Paris ausgespielt wird, und den auch Boris Becker nie gewann. Er sei generell noch "sehr hungrig" versprach Djokovic, "aber ein Wolf braucht sehr viele verschiedene Mahlzeiten, um nach Paris zu kommen. Paris ist das Dessert."

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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