Sebastian Kehl:Der letzte Stolz

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Borussia Dortmund will seine Mannschaft um den neuen Kapitän Sebastian Kehl herum aufbauen. Der ist nach langer Verletzung wieder fit genug, sich diese Rolle zuzutrauen.

Freddie Röckenhaus

Klein-Luis ist ungefähr genauso alt wie die Verletzung von Papa. Luis ist ein Sonnenschein, aber die wichtigsten Wörter des Fußball-ABCs beherrscht er noch nicht völlig störungsfrei, und deshalb sagt er "Trainilager" statt Trainingslager. Und auch das Lieblingslied "Heja Be-Vau-Be" holpert noch ein bisschen, trotz der allabendlichen Gesangsübungen mit Papa. Aber Luis ist schließlich erst zwei Jahre alt und er wird jeden Tag ein bisschen besser. Genau wie die Verletzung von Papa, dem verhinderten Nationalspieler Sebastian Kehl von Borussia Dortmund.

Sebastian Kehl ist neuer Kapitän bei Borussia Dortmund. (Foto: Foto: dpa)

Vor zwei Jahren, am 11. August 2006, im Eröffnungsspiel der Saison, grätschte Hasan Salihamidizic, damals noch bei Bayern München, in der Nähe der Mittellinie auf Sebastian Kehl zu. Es war einer dieser denkwürdigen Momente, die man im Nachhinein in Zeitlupe vor dem inneren Auge wieder und wieder sehen kann. Der Aufprall war stumpf, ein Stollen von Salihamidzic bohrte sich in Kehls Knie und riss einen Krater ins Fleisch, so tief, dass der Dortmunder noch am selben Abend im Klinikum in München operiert werden musste. Aber trotz der Fleischwunde hätte an diesem Sommerabend keiner prognostiziert, welch zähe Leidensgeschichte Kehl bevorstehen würde. Nun, fast zwei Jahre später, beim sogenannten Supercup-Spiel zwischen Dortmund und dem FC Bayern, schließt sich das Kapitel - und Luis, damals noch nicht einmal auf der Welt, wird zwei.

"Jetzt, da ich wieder gesund bin", sagt Sebastian Kehl, "mag man sich gar nicht mehr an dieses ganze Hin und Her erinnern. Du trainierst gut, dann geht es wieder schlechter, dann wieder Hoffnung, dann der nächste Rückschlag. Es gab Tage, an denen du so down bist, dass du denkst, ganz aufhören zu müssen." Man merkt dem breitschultrigen Mann an, dass es ihm schwerfällt, soviel Schwäche zuzugeben.

Bis zu diesem 11. August 2006 war Kehl der typische Modell-Athlet. Im WM-Halbfinale im eigenen Stadion gegen Italien gehörte er ein paar Wochen vorher zu den Besten, im Spiel um Platz drei gegen Portugal auch. Kehl, der athletischste unter den deutschen "Sechsern"; ein besonders intelligenter Spieler, mit Talent fürs Strategische; einer, auf den mit 26 Jahren die große Karriere noch zuzukommen schien.

Und dann dieser Zusammenprall. Der eindringende Stollen bringt Keime in die Wunde, die beim Ausspülen nicht völlig entfernt werden. Entzündungen sind die Folge, das Narbengewebe im Knie scheuert und behindert den Bewegungsablauf, erzeugt Reizungen bei jedem neuen Trainingsanlauf. Spritzenkuren wirken nicht, eine neuerliche Operation verspricht keinen Erfolg, Kehl gerät in eine Schleife aus Comebacks und Rückschlägen.

Erst in der vergangenen Rückrunde hat Kehl wieder einigermaßen Fuß gefasst, aber auch da nur halbwegs regelmäßig wieder gespielt. Zu spät für die EM. "Am Tag vor der Nominierung hat der Bundestrainer angerufen und abgesagt. Und obwohl du vorher weißt, dass deine Chancen nur gering sind: Du machst dir bis zuletzt Hoffnungen." Es sei nicht einfach gewesen, die Spiele zu verfolgen. Mit seinem Freund Christoph Metzelder und mit Jens Lehmann hat Kehl regelmäßig telefoniert. Aber eben nur telefoniert. "Wenn man so lange dabei war, 2002 schon beim WM-Finale, dann 2006 - dann ist man natürlich traurig, wenn man nicht dazugehören kann."

Rauf und runter

Vergangene Woche haben sie ihn zum neuen Kapitän bei Borussia Dortmund gemacht. Als "verlängerter Arm" von Trainer Jürgen Klopp soll Kehl fungieren. Und nicht wenige beim BVB, der in der letzten Saison mit Platz 13 die schlechteste Platzierung seit 20 Jahren einfuhr, sind der Ansicht, dass Kehl der letzte Führungsspieler sei, den es im umgebauten Kader der stolzen Dortmunder noch gibt.

Als Kehl nach Dortmund kam, Mitte der Saison 2001/02, wurde er auf Anhieb deutscher Meister und stand im Uefa-Cup-Finale. Aber auch im Verein, der nach finanziellen Turbulenzen ins Mittelmaß abgesunken ist, hat Kehl, 28, nicht gerade die glücklichste Phase erwischt. "Wir wollen um Sebastian herum die neue Mannschaft aufbauen", sagt BVB-Vorstandschef Hans-Joachim Watzke. Aber vom Rest der Mannschaft um Kehl herum weiß keiner, ob sie das Zeug hat, wesentlich besser zu sein als in der vergangenen, verkorksten Saison.

"Eine Mannschaft lebt von Typen", sagt Kehl. Er habe schon immer versucht, "Einfluss zu nehmen", den Teamspirit voranzubringen, auch ohne das Kapitänsamt. Aber er gehöre schon zu den Spielern, die noch stolz sind auf das Tragen einer Kapitänsbinde. "Wenn es schlecht läuft, muss man zusammenhalten. Bei schönem Wetter ist in jeder Mannschaft gute Stimmung. Das bedeutet nicht viel. Aber in schweren Zeiten zeigt sich, auf wen man sich verlassen kann."

Kaum einer bei Borussia Dortmund, der das stärker erfahren hätte als Sebastian Kehl. Die Narbe im Knie, sie werde ihn "für den Rest des Lebens begleiten". Weil er sie immer mal wieder spüren wird - und weil die Erfahrungen mit der Verletzung genauso unauslöschlich sind.

© SZ vom 22.7.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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