Schalke:Zurück von den Teufelsinseln

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Neues Schalker Qualitätsmerkmal: Zugang Johannes Geis verwandelt im Test gegen Enschede einen Freistoß mit bewährter Schusshaltung zum 1:0. (Foto: revierfoto/imago)

Die 04-Fans haken die grausame Vorsaison ab - ihr Glaube an Reformen ist zur Spielzeiteröffnung groß.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Vor ein paar Wochen noch hätte die Meldung, dass sich rund 100 000 Menschen auf dem Gelände des FC Schalke 04 zusammenfinden wollen, das Militär, die Polizei und den Katastrophenschutz alarmiert. 100 000 Schalker, die so wütend sind, wie sie es nach den Spielen ihres Vereins im vorigen Bundesliga- finale waren, hätten Gelsenkirchen wie ehedem zur "Stadt der 1000 Feuer" machen können - jedoch nicht im lyrischen Sinn, in dem der Ort zu Zechenzeiten besungen wurde, sondern im wörtlichen. Aber der Furor, der im Mai die königsblaue Gemeinde bewegte, scheint schon mindestens so historisch und gestrig zu sein wie Schalkes letzte Meisterschaft (1958).

Am Sonntag, beim turnusmäßigen Volksfest zur Saisoneröffnung, standen die Leute bei sengender Hitze kilometerweit Schlange vor den Zelten, in denen jene Schalker Profis Autogramme schrieben, die man Ende Mai noch auf einsame Teufelsinseln gewünscht hatte. Auch die reihum lauthals verbreiteten Drohungen von Dauerkarten-Kündigungen haben sich nicht bestätigt, wie üblich hat der Klub den Verkauf der Abonnements beim Stand von 43 935 Tickets längst eingestellt.

Die 100 000 am Sonntag erlebten ein Schalke, von dem jetzt alle sehr überzeugt behaupten, es sei ein neues Schalke, was zunächst aber auf einer sich alljährlich wiederholenden Wunschvorstellung beruht. Der Ruf nach grundlegenden Reformen und Säuberungen ist ein Standard- motiv in dem von Emotionen getriebenen Verein. Selten in diesem Jahrhundert aber war die Sehnsucht so groß wie zu Beginn dieses Sommers, als man nicht wusste, was schlimmer war: Der grauenvolle Fußball, den die Mannschaft zuletzt gespielt hatte; der eklatante Rückstand auf die Spitzenteams der Liga; oder die Verachtung durch den Rest der Fußballwelt, weil sich Schalke durch die Niederlage am letzten Spieltag auch noch am Klassenerhalt des Hamburger SV schuldig gemacht hatte.

Insofern hat André Breitenreiter, 45, nicht viel unternehmen müssen, um sich vom Schalker Volk in den Rang des Reformators erheben zu lassen. Er brauchte dafür keine Thesen an die Wand zu nageln oder andere symbolische Dinge zu tun, er tat das genaue Gegenteil: Er präsentierte sich vom ersten Tag an als der, der er ist. André Breitenreiter ist auf unverstellte, unkomplizierte und für alle erkennbare Weise André Breitenreiter, was ihn schon mal sehr deutlich von seinem Vorgänger unterscheidet, dem radikal introvertierten, hintersinnigen, stets etwas geheimnisvollen Roberto Di Matteo, den in Schalke am Ende niemand mehr verstanden hat.

Der neue Trainer Breitenreiter tritt im wilden Gelsenkirchen nicht anders auf als in Havelse

Zum Einstand vor knapp zwei Monaten hatte Breitenreiter erklärt, seine Berufung bedeute nicht nur für ihn als relativ jungen und unerprobten Fußball-Lehrer "eine große Herausforderung und große Chance" - sondern "vielleicht auch für den Klub". Dieser schlaue Satz hat sich bisher beinahe ebenso bewahrheitet wie seine Feststellung, dass die Menschen im Grunde überall die Gleichen seien - "ob in Havelse, Paderborn oder Gelsenkirchen". Fußballer bleiben Fußballer, weiß Breitenreiter, ob in der Regional- oder Bundesliga.

Für ihn kommt es darauf an, dass die Spieler sein Arbeitsprogramm befolgen, und das ist nach Angaben von Beteiligten außerordentlich hart. Eine ausgeprägte Kondition der Spieler sei unabdingbar, um Breitenreiters anspruchsvolle Vorstellungen von Pressing und permanenter Balljagd zu erfüllen, erläuterte neulich dessen Assistent und Vertrauter Volkan Bulut, der seinem Chef Breitenreiter in knapp fünf Jahren Zusammenarbeit aus der niedersächsischen Oberliga bis ins wilde Gelsenkirchen gefolgt ist. Tatsächlich scheint in Schalke eine Umerziehung der jahrelang an eher passive Spielsysteme gewöhnten Profis stattzufinden. Beim Test gegen Twente Enschede am Sonntag (1:1) waren Fortschritte erkennbar, auch in Details wie dem furiosen Freistoß vom Mainzer Zugang Johannes Geis zum 1:0 - aber auch der Bedarf nach weiteren Lehrstunden.

Bei dem Vorsatz, Vielseitigkeit zum Prinzip zu machen, kam dem neuen Trainer ein Spieler abhanden, der sieben Jahre lang zu den besten Schalkern zählte und von seinen Lehrern trotzdem oft als Problem angesehen wurde. Weniger deshalb, weil Jefferson Farfán wieder zu spät aus dem Heimaturlaub in Peru zurückgekehrt war, weil er beim Training lieber rumalberte, als ernsthaft zu arbeiten, oder weil er nach diversen Drive-in-Trips im Schnellrestaurant ein paar Kilo zu viel auf die Waage brachte. Sondern weil er als unabänderlicher Außenbahnspieler strategisch eine gewisse Einförmigkeit voraussetzte. Für den gerade genesenen Farfán änderte Di Matteo in der Vorsaison sein bis dahin tragfähiges System - ein fataler Fehler.

Als nun aus den Emiraten ein Angebot für Farfán übermittelt wurde, konnte keine der Parteien Nein sagen. Farfán erhält am Golf drei Jahre ein aberwitziges Gehalt, Schalke eine stattliche Ablöse für einen 30-Jährigen, der zuletzt oft verletzt war und hohe Unterhaltskosten verschlang. Ökonomisch also ein Glücksfall für alle - und sportlich ein Verlust, den Breitenreiter verkraften wird. Dem zwischenzeitlich diskutierten, aber verworfenen Transfer von Julian Draxler zu Juventus Turin hat sich der Trainer dagegen so resolut widersetzt, wie es sein Status erlaubt. In Wahrheit hatte der Klub aber auch wenig Interesse, den Nationalspieler zu veräußern, die Initiative ging von Draxler aus, der zwei frustrierende Jahre in seinem Heimatverein hinter sich hat und einen Neuanfang sucht. Den wird er nun im neuen Schalke starten.

Draxler erhielt freundlichen Applaus am Sonntag - der populäre Farfán nicht. Schalke hatte zwar angekündigt, er käme extra angereist, um von den Fans Abschied zu nehmen, aber aus dem österreichischen Trainingslager seines neuen Klubs verlautete, dass er offenbar seinen Heimaturlaub verlängert habe.

© SZ vom 04.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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