Schalke 04:Neuling ohne Hemmungen

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Benedikt Höwedes bedankt sich nach dem Spiel in der Veltins-Arena bei den Fans. (Foto: dpa)

Die Degradierung des Kapitäns Benedikt Höwedes zeigt: Schalkes Trainer Domenico Tedesco nimmt keine Rücksicht auf Hierarchien.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Es klingt nach einem gesunden Rechts- und Demokratieverständnis, wenn Domenico Tedesco - wie am Freitag geschehen - die Anteilnahme der königsblauen Gemeinde am Schicksal von Benedikt Höwedes für "legitim" erklärt. Allerdings geht es in dieser Frage, wie Höwedes erfahren musste, nicht um Tedescos Rechts- und Demokratieverständnis, sondern um dessen Selbstverständnis als neuer Trainer von Schalke 04, weshalb er auf die besorgten Verehrer des Vorzeige-Schalkers genauso viel Rücksicht nimmt wie auf den betrübten Vorzeige-Schalker selbst. Das hat Tedesco am Tag vor seiner Bundesliga-Premiere gegen RB Leipzig am Samstagabend in freundlichem Tonfall, aber glasharten Worten deutlich gemacht. Sinngemäß ließ er die Gemeinde wissen, dass er sich bei seinen Entscheidungen nicht nach den Sentimentalitäten des Umfeldes richten werde - und auch nicht, ebenfalls sinngemäß, nach den Verdiensten eines alten Helden.

Der Neuling Tedesco hätte es sich leicht machen und den Weltmeister und amtierenden Nationalspieler für unantastbar erklären können. Zwar hat Höwedes in Gelsenkirchen noch nicht den Status der Legende erreicht, er ist noch kein Ernst Kuzorra, Olaf Thon oder Gerald Asamoah, aber er befindet sich als tätig bekennender Schalker mindestens im Vorstadium der Seligsprechung. Dass Tedesco sich über diese Sachlage hinwegsetzte, indem er dem 29 Jahre alten Abwehrchef demonstrativ die 2011 von Manuel Neuer übernommene Kapitänsschleife entzog, damit hat er vor zwei Wochen sogar seinen wichtigsten Verbündeten, den Sportchef Christian Heidel, überrascht. Als die Nachricht bekannt wurde, hatte Heidel mangels Vorbereitung Mühe, dem Manöver rhetorisch beizustehen. Und das Thema hört auch im Angesicht des Saisonstarts nicht auf, akut zu sein, dafür sorgt selbstverständlich auch der unerbittliche Ruhrpott-Chefkritiker Peter Neururer. Ohne Anlass habe Tedesco den ehrenwerten Star degradiert, schimpfte Neururer; solange nichts Unangenehmes vorgefallen sei - "was wir alle nicht wissen", wie er einräumte - bleibe dies eine unverständliche Entscheidung.

Tatsächlich wissen Augenzeugen von mehreren Vorfällen während der Vorbereitung zu berichten, zum Beispiel neulich beim Test gegen Chrystal Palace. Es handelte sich um die gleichen Vergehen, die sich Höwedes schon in den vorigen Jahren zuschulden kommen ließ unter all den anderen Schalker Trainern (deren Namen nur Menschen mit lexikalischem Gedächtnis präsent sind): keine konkret strafbaren Handlungen, aber fortgesetzte Verstöße gegen die höhere Spielkultur. Höwedes ist zwar ein grandioser Zweikämpfer und Schwerarbeiter im Abwehrgetümmel; ein grandioser Aufbauspieler und Spielbeschleuniger aber ist er bisher nicht gewesen. Seine Neigung zu Rück- und Querpässen treibt selbst seine Freunde und Verehrer in die Verzweiflung, dem Kollegen Ralf Fährmann - seinem Nachfolger als Kapitän - bescherte er regelmäßig schwere Beine, denn die meisten der 1001 Rückpässe musste der Torwart mit Gewaltschüssen ins ferne Niemandsland beseitigen, weil ihn die gegnerischen Stürmer bedrängten.

Höwedes' notorische Rückpässe und die zahllosen Ballverluste nach Fährmanns ziellosen Befreiungsschlägen waren nicht die Ursache des sportlichen Niedergangs, den Schalke im Laufe der vergangenen drei, vier Jahre erlitten hat. Aber sie waren ein nicht ganz unwichtiger Teil davon. Tedesco scheint nun entschlossen zu sein, Höwedes von seiner Unsitte zu kurieren - notfalls auf Kosten der Einsatzgewährung. Denn im Jahr vor der nächsten Weltmeisterschaft geht es für den Nationalspieler längst nicht mehr bloß um die verflossene Kapitänswürde, sondern um den Platz in der ersten Mannschaft. Dass Tedesco entschlossen ist, die Elf nach seinen sehr speziellen Vorstellungen zu bilden, und dass er seine Ideen mit einem liebenswürdigen Lächeln, aber ohne Hemmungen vertritt, das hat sich im Team längst rumgesprochen: "Der Trainer macht Dinge, die nicht jeder erwartet", sagt Mittelfeldspieler Nabil Bentaleb: "Du weißt als Spieler nie genau, was er plant, man kann sich da nie sicher sein. Er stellt die Spieler auf, die im Training am besten waren und der Mannschaft im Spiel am meisten helfen können." Womit er schon mal eine Menge anders macht als sein Vorgänger: Markus Weinzierl hatte ein sehr loyales Verhältnis zur Stammelf - positiv formuliert. Man konnte es aber auch als Mangel an Fantasie betrachten.

Tedesco nimmt zugunsten seiner Spielabsichten keine Rücksichten auf Hierarchien. Der Spanier Coke, der heimliche Königstransfer der Vorsaison, fand nicht mal für das Pokalspiel beim Viertligisten Dynamo Berlin Aufnahme in den Kader, er hat keinen Platz mehr im neuen Spielsystem. Die Frage, ob es Höwedes nun beim Leipzig-Spiel ähnlich ergehen werde, beantwortete Tedesco eindeutig nicht mit einem klaren Ja. Wohin das Verhältnis zwischen dem neuen und dem alten Hauptdarsteller führt, das weiß man noch nicht. Spekulationen, dass Höwedes das Gesuch stellen könnte, Schalke auf dem Express-Weg zu verlassen, wurden von Christian Heidel zurückgewiesen. "Es gibt nullkommanull Tendenz in diese Richtung", sagte er. Endgültig ist diese Aussage aber erst am 1. September, nachdem der Transfermarkt geschlossen wurde.

© SZ vom 19.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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