Schalke 04:Kniffe im klatschnassen Hemd

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Verlegen auf einem Podest vor der Tribüne – Schalkes Trainer Domenico Tedesco (winkend in der Mitte) über seinen Ausflug zu den Fans der Nordkurve: „Ich hatte ursprünglich abgelehnt, aber ich hatte auch das Gefühl, wenn ich nein sage, bauen die Ultras das Stadion ab.“ (Foto: Horstmüller/imago)

Während das Umfeld die strategischen Schachzüge von Trainer Tedesco im Revierderby feiert, bangt Borussia Dortmund mal wieder um einen Champions-League-Platz - auch, weil spielerische Klasse fehlt.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Fast eine halbe Stunde verging nach dem Abpfiff, bis die Schalker Spieler endlich die ersten Feierlichkeiten anlässlich ihres 2:0-Siegs gegen Borussia Dortmund absolviert hatten, und nach der abschließenden Ehrenrunde vor immer noch zigtausenden von Glückseligen auf den Tribünen drängte sich ein beunruhigender Gedanke auf: Was wird bloß geschehen, wenn an diesem Ort nicht nur die Reviermeisterschaft, sondern die richtige Meisterschaft zu feiern wäre? Vielleicht sogar noch in diesem Jahrhundert?

Schon am Sonntagnachmittag galt es, Sachschaden infolge der Begeisterung zu verhindern. Cheftrainer Domenico Tedesco war zu diesem Zweck auf das Podest vor dem Fanblock geklettert, auf dem üblicherweise zwei Vorsänger während der Spiele die Fan-Chöre animieren. Zunächst hatte er die Einladung der Anhänger zurückgewiesen, aber das Pflichtgefühl war stärker als die Bedenken, in den Mittelpunkt zu treten: "Ich hatte Sorgen, dass die Ultras sonst das Stadion abgebaut hätten." Vorsichtshalber begleitete ihn ein Leibwächter, aber der bärtige Personenschützer, der seit vielen Jahren auch auf die Nationalmannschaft aufpasst, stand bloß schmunzelnd daneben, als Tedesco mit den Fans den Sieg bejubelte und dabei in seiner jugendlichen Erscheinung selbst aussah wie ein Mitglied der Ultras.

An seiner Stelle hätten eigentlich Alterspräsident Naldo oder am besten die ganze Mannschaft dort oben hingehört, erklärte der Trainer später, doch Naldo erklärte die Wahl der Fans für richtig. Tatsächlich hatte Tedesco zwar kein Tor geschossen wie Naldo, der mit dem Gewaltakt zum 2:0 sein siebtes Saisontor erzielte, aber im Grunde hatte auch er mitgespielt. Man sah ihn schon gestikulieren und dirigieren, als der Ball noch am Anstoßpunkt lag und die Partie gar nicht eröffnet war.

Im Fernsehen sagte BVB-Coach Stöger: "Mein Dienstverhältnis endet am 30. Juni - das ist gut so.

Seine ständige wilde Anteilnahme am Geschehen unterschied sich so grundlegend von der unbewegten Gegenwart seines Dortmunder Kollegen Peter Stöger, dass die WAZ vor der Analyse der strategischen Matchpläne einen Vergleich der Dienstbekleidungen anstellte: Während Tedesco sein Polo-Hemd klatschnass schwitzte, habe Stöger seine gelbe Jacke nach dem Spiel "mit Bügelfalte zurück in den Schrank legen können". Nach dem Abpfiff nahm Tedescos Freude erstaunliche Züge an, als er auf die Knie fiel und mit den Händen auf den Rasen schlug wie ein Mann, zu dem der brennende Dornenbusch gesprochen hat. Befragt nach dem Hergang dieser Entrückung, wusste er keine Antwort zu geben. Er konnte sich nicht erinnern, dass es diese Momente überhaupt gegeben hatte.

Zum Glück für Schalke war der Trainer komplett bei Sinnen, als er sein Konzept für das Derby entwarf. Schalke habe "mehr Disziplin im Plan" gehabt, sagte Leon Goretzka später, vor allem aber hatte der Trainer auch schlaue Ideen ins Programm eingefügt. Besonders die Zugehörigkeit Jewgen Konoplyankas zur Startelf sollte sich als guter Einfall erweisen. Konoplyanka gehörte zuletzt zum ständigen Bankpersonal, doch diesmal war der oft unterschätzte ukrainische Linksaußen genau der Mann, den Tedesco brauchte. "Der Flügel ist sein Wohnzimmer", hat der Trainer festgestellt und auf diesem Gedanken eine Strategie aufgebaut, die den Borussen zu schaffen machte. "Wenn Schöpfi, Harit und Kono dribbeln, dann kriegst du den Gegner tief, und dann wird auch die Verlagerung möglich", erläuterte Tedesco.

Übersetzt sollte das heißen: Die Fummler Alessandro Schöpf, Amine Harit und Konoplyanka sollten an der linken Seitenlinie die gegnerischen Kapazitäten binden und auf der rechten Seite Platz für Daniel Caligiuris Vorstöße schaffen. Dieser Kniff wird Tedesco noch nicht den Nobelpreis einbringen, aber er war ein typischer Ausweis seiner Arbeitsweise, wie Manager Christian Heidel erläuterte: "Er schaut sich den Gegner an und überlegt: Was passt dazu?" Mit seinen geradlinigen Methoden und seiner reellen Herangehensweise hat der Coach ein Team an die Tür zur Champions League geführt, das diesen Erfolg genauso wenig erwartet hatte wie der Rest der Welt. "Vor der Saison waren nicht viele der Meinung, dass wir das erreichen können", sagte Goretzka, der auch deswegen dem Wechsel zum FC Bayern zugestimmt hat: Weil er es nicht für möglich gehalten hatte, dass er mit dieser Schalker Mannschaft der Konkurrenz davonlaufen könnte.

Wie 99,9 Prozent der übrigen Experten hat Goretzka Dortmund auf dem Tabellenrang erwartet, den er jetzt mit Schalke belegt, aber der BVB vom Sonntag hat nicht viel gemein mit dem BVB aus den Saisonvorschauen. Dass Stöger am Sonntag auf aktives Coaching verzichtete, lag nicht nur an seiner ruhigen Natur, sondern womöglich auch daran, dass er am Sinn von mobilisierenden Maßnahmen zweifelt. Schon öfter hat er subtil anklingen lassen, dass er den Dortmunder Kader nicht trotz, sondern wegen der vielen Prominenten für überbewertet hält. Was er derzeit dem Nationalspieler Mario Götze zutraut, das zeigte er mit dessen Einwechslung zur 86. Minute. Am Sonntag fehlte dem BVB im Vergleich mit den entschlossenen Schalkern nicht nur das nötige Extra-Engagement, sondern auch spielerische Klasse. Der verunsicherte und nun wieder um die Champions League bangende Riese bedarf der Wiederbelebung, aber wem sie dieses Kunststück anvertrauen sollen, darüber rätseln die Verantwortlichen der Borussia noch. Stöger scheint in Gedanken schon seine Sachen zu packen, "mein Dienstverhältnis endet am 30. Juni - und das ist gut so", erklärte er im Fernsehen.

© SZ vom 17.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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