Rugby-WM:Tränen bei Tesco

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Rugby-Held Jonny Wilkinson führt England zum ersten Mannschafts-WM-Titel seit dem Triumph in Wembley 1966.

Von Javier Cáceres

Zur Zeit bietet Tesco auch in seiner Großmarktfiliale in Northumberland, England, "festive deals" an; 25 Prozent auf südafrikanische Weine zum Beispiel, und der vorweihnachtlichen Jahreszeit entsprechend auch Sonderpreise auf allerhand elektronisches Gerät. Videoplayer, TV-Geräte, so etwas halt. Als Jonny Wilkinson, zurzeit als bester Rugbyspieler der Welt gepriesen, im fernen Australien das Leder-Ei mit seinem schwächeren, rechten Fuß per Dropkick durch das Große H getreten hatte, um 27 Sekunden vor Ende der Verlängerung des WM-Finales den 20:17-Sieg der englischen Nationalmannschaft gegen Australien herzustellen, war Mutter Philippa dort zu Gast - an der Gemüsetheke. Ken Thompson, 37 und Angestellter des Supermarkts, fragte die Dame, ob sie dem Rugby zugeneigt sei, und sie antwortete: "Ich bin Jonny Wilkisons mum", das Finale wollte sie sich nicht angucken: die Nerven. Thompson will es dann gewesen sein, der ihr zwischen Erdäpfeln und Salatköpfen auflauerte, als das Spiel vorüber war: "Ihr Sohn hat uns gerade zum Weltmeister gemacht." Frau Wilkinson sei schreiend einer Fachkraft namens Mary Heddon in die Arme gefallen. Und es flossen Tränen. Beiderseits.

Wilkinson also, Jonny Wilkinson. Wer sonst hätte das WM-Finale in Sydney vor 83 000 Zuschauern auch entscheiden sollen - wenn nicht er, die 24-Jährige Ausnahmeerscheinung, die Goldenboots genannt und ähnlich gepriesen wird wie David Beckham, der Fußballer von Real Madrid? Und wie anders hätte er die Entscheidung im wohl "besten Finale der WM-Geschichte" (Sydney Morning Herald) auch herbeiführen sollen, wenn nicht durch einen letzten, dramatischen Kick, der seine Einzigartigkeit nur unterstrich? Am Samstag hatte das Londoner Blatt Independent geunkt, dass es unerheblich sei, was Wilkinson im Finale anstelle - es würde ihn weder zum Millionär noch zu einer Ikone machen. "Er ist es bereits."

Was nicht heißt, dass Steigerungen nicht doch noch möglich sind. PR-Experten versichern, dass sich der Marktwert des fly-halfs (Verbinder) von Newcastle Falcons enorm gesteigert hat, in britischen Blättern wird das künftige Jahressalär auf überschlägig elf Millionen Euro taxiert. Der nette Mr Wilkinson komme in allen erdenklichen Zielgruppen gut an: beim Establishment, bei den Rugbyfans, heranwachsenden Mädchen, Hausfrauen - und Gays. "Member of the British Empire" ist er bereits, bei den Buchmachern kann man nur noch Geld verdienen, wenn man darauf setzt, dass er von Königin Elizabeth II. nicht zum "Sir" erkoren wird - bei einer Quote von 4:1. Nicht umsonst hatte ein australisches Blatt eine Vodoo-Puppe Wilkinsons veröffentlicht - zum Ausschneiden und quälen. Und im heimischen England löste er einen derartigen Hype aus, dass die Pubs am Samstag um sieben Uhr morgens öffneten, zwei Stunden vor Beginn der Liveübetragung - und dann, einer Erhebung des Observer zufolge, 37 Millionen "Sieger-Pints" ausschenkten. Sieben Millionen Halblitergläser mehr als an herkömmlichen Geschäftstagen.

Was nur nachvollziehbar ist, den Engländern dürstete ja seit dem Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft von 1966 im eigenen Land nach einem echten Erfolg in einem Mannschaftssport. Dass am Samstag in Ben Cohen ein Neffe des Fußball-Weltmeisters George Cohen im Rugby-Team stand, war mehr als eine bloße Anekdote. "Dies ist ein großer Tag für (. . .) England", ließ Premier Tony Blair wissen, wiewohl Frankreichs Präsident Jacques Chirac auch einen Anteil reklamierte ("ein Triumph für ganz Europa"), weil England der erste Rugby-Weltmeister der nördlichen Hemisphäre ist. Auch die Queen verfolgte das Finale am TV - wenngleich vermutlich in nicht ganz so plebejischer Manier wie Prinz Harry. Ihr Enkel hatte sich - wie die Mehrzahl seiner 40 000 Landsleute im Stadion - das weiße Hemd mit der roten Rose auf dem Herzen übergestreift.

Nicht nur eingedenk des Drucks, der auf den Engländern lastete, war der Sieg eindrucksvoll. Auch wegen der Unbeirrbarkeit, mit der sie die Australier niederrangen - Unbeirrbarkeit im Glauben an die eigenen Tugenden. Ein langweiliger Stil war ihnen von den Australiern vorgeworfen worden, dass sie sich zu sehr auf die Tritte Wilkinsons verlassen und zu wenig das Flügelspiel suchen würden. Schönheit ist keine Kategorie, fand Trainer Woodward, der nun auch als angehender Adliger gehandelt wird, "wir sind nicht Torvill und Dean", das berühmte britische Eisläuferpaar.

Hübsch anzusehen war das Finale dennoch, auch kraftvollen Schlachten wohnt bisweilen Schönheit inne. Zumal dann, wenn ein Genie aufscheint wie Wilkinson, der den einzigen Versuch Englands erdachte (zum 14:5-Halbzeitstand), vier von vier Straftritten (den ersten aus etwa 50 Meter Entfernung) - und eben den alles entscheidenden Dropkick verwandelte. Spannend war es eh: Wilkinsons australischer Gegenpart, Elton Flatley, hatte zwei Mal in extremis ausgleichen können: Kurz vor Ende der regulären Spielzeit erzwang er die Verlängerung, 80 Sekunden vor deren Ende erzielte er das 17:17. "Du weißt genau, was Du Dir in so einer Situation wünscht", sagte Wilkinson, "aber es erscheint Dir nahezu unmöglich, dass es geschieht." Dann sah er sich doch dem Großen H gegenüber und trat das Ei hindurch. Und es schien, als wäre es bis zur Gemüsetheke bei Tesco geflogen.

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